Deebs, Tracy - Tempest - 01 - Tochter des Meer
funktionierte nicht. Kurz darauf kamen die beiden wieder nach oben. Ich hörte, wie Dad Mo ins Bett brachte und erstarrte, als seine Schritte vor meiner Tür verharrten.
Diesmal klopfte er nicht und kam auch nicht herein; wahrscheinlich wollte er mir eine Verschnaufpause gönnen, vermutete ich und war dankbar dafür. Alles andere würde mich emotional komplett überfordern.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich so dalag. Minuten wurden zu Stunden, während ich durch das Oberlicht in meiner Zimmerdecke die Sterne beobachtete. Ich zählte sie wieder und wieder, wie ich es schon mein Leben lang getan hatte, wenn ich nicht schlafen konnte.
Ich sah mir die Sternbilder an.
Erschuf meine eigenen Bilder.
Tat alles, außer daran zu denken, dass meine Zeit allmählich verrann.
Als ich die Sterne unmöglich noch ein weiteres Mal zählen konnte, stieg ich aus dem Bett. Ich sah auf die Uhr, es war fast vier Uhr früh und im Haus war alles still. Ich dachte daran zu malen, doch zum ersten Mal im Leben brachte ich nicht genug Energie auf, um den Pinsel zu schwingen.
Als ich in den Korridor trat, war das einzige Geräusch das Ticken der Standuhr meiner Mutter. Ihr rhythmisches Klicken zehrte an meinen Nerven und nicht zum ersten Mal stellte ich mir vor, wie gut es sich anfühlen würde, etwas in sie hineinzuschleudern. Das Glas, das Schlagwerk und alles andere zu zertrümmern, bis nichts mehr davon übrig war.
Vielleicht konnte das Leben für meinen Dad dann weitergehen.
Vielleicht konnte es für uns alle weitergehen.
Jahrelang hatte die dämliche Uhr im Viertelstundentakt geschlagen und die Abwesenheit meiner Mutter markiert, bis ich es aufgab, sie in Minuten, Stunden oder Tagen erfassen zu wollen und schließlich selbst Wochen und Monate nicht mehr ausreichten, um sie zu bemessen.
Sechs Jahre. Heute vor sechs Jahren war meine Mutter fortgegangen und jetzt schloss sich der Kreis. Vielleicht würde es mir nun genauso ergehen wie ihr, egal, wofür ich mich entscheiden wollte.
Ich erwog, das Medikamentenschränkchen meines Vaters zu plündern - und seinen Vorrat an Schlafmitteln anzuzapfen doch bei der Vorstellung, mich wieder ins Bett zu legen und weitere drei Stunden die Sterne anzustarren, wurde mir buchstäblich schlecht.
Stattdessen sprang ich immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter und zog ein Sweatshirt aus dem Garderobenschrank bei der Eingangstür. Dann schlüpfte ich aus dem Haus und in die Nacht hinaus.
Während ich mit nackten Füßen über den Rasen lief, nahm ich die vollkommene Stille in mir auf, die über meiner Straße lag. Es war noch zu früh für die Rechtsanwälte und Ärzte, um in ihre Kanzleien und Praxen zu eilen, und auch für die 5-km- Joggingrunde ihrer Ehepartner. Stattdessen waren die Häuser fest verrammelt, die Heizungen aufgedreht und die Alarmanlagen eingeschaltet.
Oben am Himmel warf ein Mond von der Farbe und Anmut einer tropischen Perle sein Licht auf die Bäume; abgesehen von der einsamen Straßenlaterne am Ende der Sackgasse war er das einzig Helle im Umkreis. Einen Moment lang fühlte ich mich wie der letzte Mensch auf Erden.
Ich achtete nicht auf den Kies und die kleinen Steine, die sich mir beim Überqueren der Straße in Zehen und Fersen bohrten, bis ich die Füße erleichtert in den kalten Wintersand drücken konnte.
Ich spazierte lange am Strand entlang, genau dort, wo die Flut auf den Sand traf, und ließ mich vom Wasser an den Zehen kitzeln, ohne zu merken, wie die Zeit verrann. Ich spielte Fangen mit den in endloser Folge heranrollenden Wellen, wobei ich häufiger verlor als gewann.
Obwohl ich kein bestimmtes Ziel im Kopf hatte, wunderte es mich nicht, als ich mich nach etwa anderthalb Kilometern bei meinem Grübelfelsen wiederfand. Seit sechs Jahren kam ich regelmäßig hierher, wenn mir das Leben zu viel wurde, und diese Woche gehörte weiß Gott in diese Kategorie.
Rasch erklomm ich den schroffen Felsen, fand mit Händen und Füßen die vertrauten Haltepunkte in den rauen Spalten. Ich bewegte mich schnell, aber vorsichtig - auf meinen Beinen, Hüften und selbst auf meinem rechten Handrücken befanden sich genug Narben, die von Fehlern bei früheren Kletterausflügen zeugten.
Als ich mich oben auf dem Felsen niederließ, war das Donnern des Ozeans eine einzige, wilde Kakophonie - die perfekte Widerspiegelung meiner Stimmung. Ich sah auf das Wasser hinaus, das ich gleichzeitig liebte und verabscheute, und flehte um ein kleines bisschen von dem
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