Deebs, Tracy - Tempest - 01 - Tochter des Meer
hätte. Ich hatte versucht ihr zu glauben, sechs Jahre lang hatte ich mich nach Kräften bemüht, die Wahrheit zu ignorieren. Doch das war nun nicht mehr möglich. Nicht, wenn ich die unheimliche Präsenz der Wasserhexe spüren konnte, die direkt unter der Wasseroberfläche voller Gier auf mich lauerte. Ich wusste weder, wer sie war, noch was sie von mir wollte, aber mir war klar, dass Kona recht hatte. Sie wollte mich.
Wie meine Mutter gab auch Kona mir auf meine halb hysterischen Fragen keine Antwort. Stattdessen hörte ich ihn in einer unbekannten Sprache Beschwörungen murmeln. Sie waren schön, rhythmisch und beruhigend. Noch besser aber war, dass sie die aufgewühlten Wassermassen zu besänftigen schienen. Nicht allzu viel, aber doch genug, um meine Beine dem merkwürdigen Klammergriff zu entziehen, der mich festhielt.
Kona schien meine neu gewonnene Freiheit zu erahnen, denn er unterbrach seine Beschwörungen gerade lange genug, um zu rufen: »Lauf!«
Dann wühlten wir uns durchs Wasser. Während er mich halb trug und halb zerrte, versuchte ich verzweifelt mit seinem halsbrecherischen Tempo Schritt zu halten.
Als wir ans Ufer taumelten, schoss mir flüchtig durch den Kopf, dass kein Mensch sich so schnell durchs Wasser bewegen konnte, wie Kona es getan hatte. Trotzdem wehrte ich mich nicht, als er mich in den Schutz meines Felsens zog und sich über mich kauerte, während der Himmel in einem wahren Tobsuchtsanfall auf uns einprügelte.
Minutenlang lag ich im Schutz seines Körpers, starrte schwer atmend zum Himmel auf und versuchte mir zusammenzureimen, was geschehen war. Als die Fakten auf mi ch einstürmten - die merkwürdige Stimme, die Tatsache, dass ich Kona nun schon zum zweiten Mal in meinem Kopf gehört hatte, die gierigen Hände, die mich im Meer festgehalten hatten - versteifte ich mich und riss mich von ihm los.
Ohne auf den Sturm zu achten, der uns immer noch entgegenblies, sprang ich auf und stellte die Frage, die mich inzwischen seit über einer Woche verfolgte, seit jenem Tag im Regen, als Kona direkt vor meinen Augen verschwunden war. Seit jenem Tag, an dem mich zum ersten Mal die dunkle Ahnung beschlichen hatte, dass er mehr war als ein Mensch.
»Wer zum Teufel bist du und was willst du von mir?«
Seine Augen waren ruhig und dunkel wie Magie, als er meinen Blick erwiderte: »Bist du sicher, dass du für die Antworten schon bereit bist?«
10
Seine Frage hing zwischen uns in der Luft wie ein Gewehr, das jederzeit losgehen konnte. Plötzlich war ich mir tatsächlich nicht mehr sicher, ob ich die Antworten hören wollte.
Für mich war gar nichts mehr sicher.
In nicht einmal zwei Wochen war mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt worden, bis der Normalzustand in weite Ferne gerückt und jeder neue Tag ein wenig verworrener war als der vorherige.
Ich starrte Kona an, der im dämmrigen Mondlicht so ruhig wirkte, so gefasst, dass ich das, was ich wusste, sekundenlang in Zweifel zog. Jenseits der beängstigenden und verlockenden Umklammerung des Wassers war ich nicht mehr sicher, ob ich mir die letzten furchterregenden Momente nicht eingebildet hatte. Und doch musste es sie gegeben haben. Nicht? Ansonsten wurde ich schlicht und einfach verrückt, eine Vorstellung, mit der ich mich, neben allem anderen, nicht auch noch auseinandersetzen konnte.
Sie will dich.
Konas Worte hallten durch meinen Kopf. Du darfst ihr nicht nachgeben. Sie will dich.
Nein, ich hatte mir nichts eingebildet - weder vor sechs Jahren noch jetzt. Irgendetwas war im Wasser gewesen und Kona wusste genau Bescheid. »Gib wem nicht nach?«, wollte ich wissen.
Konas Augen nahmen einen wachsamen Ausdruck an, sein Gesicht wirkte verschlossener, als ich es je gesehen hatte. »Lass es gut sein, Tempest.«
»Tu das nicht.« Ich sprach laut und abgehackt, aber das ließ sich nicht ändern. Inzwischen wurde ich von heftigen Kälteschauern geschüttelt, ich klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Körper. »Irgendetwas hat versucht, mich unter Wasser zu ziehen. Ich weiß, dass du es auch gespürt hast.«
Er kam auf mich zu und zog mich in seine schützenden Arme. Er war groß, breit und kuschelig warm - eine Decke, deren Wärme die Kälte durchdrang, die jede Faser meines Körpers in Besitz genommen hatte. Ein winziger Teil meines Verstandes fragte sich, wie er sich so heiß anfühlen konnte, wenn das Wasser und die Luft so kalt waren, doch der Rest von mir war einfach nur dankbar für die Wärme. Und den Zuspruch.
Weitere Kostenlose Bücher