Deer Lake 02 - Engel der Schuld
langsam wieder die Augen, als der zweite Satz des Konzerts sich dem Finale näherte. Ellen hielt den Atem an, wartete mit angespannten Muskeln. Ihr war nie in den Sinn gekommen, daß Grabkos Hang zu Prätentionen auch einen Hang zum Theatralischen beinhaltete. Das war sein großer Fall, seine Chance zu glänzen, seinen Namen in den Zeitungen zu sehen. Der distinguierte Richter Gorman Grabko.
Vivaldis Musik stieg aus einem Regal empor, das mit gelehrten Abhandlungen über die aristokratische Kunst des Fliegenfischens gefüllt war.
»Das Gericht wird die Berichte anfordern«, sagte Grabko schließlich. »Ich werde sie selbst in Augenschein nehmen, um über Relevanz in diesem Fall zu entscheiden. Dann sehen wir weiter.«
Costello lächelte. »Danke, Euer Ehren.«
Eine halbe Stunde später verließen sie Grabkos Richterzimmer, betraten den leeren Gerichtssaal, in dem Ellen für vierzehn Uhr eine Urteilsverkündung anberaumt hatte. Das Summen von Stimmen im Korridor drang schwach bis zu ihr durch. Anwälte, die mit Pflichtanwälten Erfahrungen tauschten, Kompromisse mit den Anklägern schlossen während sie darauf warteten, daß ihre Fälle in Richter Witts Gerichtssaal aufgerufen wurden.
Unter die übliche Menge hatten sich Reporter gemischt, die wie Ozelote lauerten, bereit aufzuspringen und ihre Beute im Lauf zu schlagen. Es hatten bereits ziemlich viele Journalisten im Korridor gestanden, als sie und Costello heraufgekommen waren. Inzwischen würde wahrscheinlich der ganze Gang von ihnen schwirren. Sie geiferten sicher schon vor Erwartung. Ellen als Opfer von Vandalismus und Costellos sensationelle Eröffnung hatten das Zeug zu einer Titelgeschichte.
Sie hatte es nicht eilig, sich ins Getummel zu stürzen, deshalb blieb sie vor dem Richtertisch stehen, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und verschränkte die Arme über der Brust. »Deine Medienmarionetten warten.«
Costello sah sie amüsiert an. »Wie kommst du darauf, daß ich sie hergebeten habe?«
»Ich habe meine Naivität vor langer Zeit abgelegt, Tony. Sobald zwei oder mehr Reporter versammelt sind, lieferst du ihnen eine Show. Und sie werden es mit Haut und Haaren fressen – daß du die Schuld auf die Familie abwälzen willst. Davon lebt die Skandalpresse. Es ist widerlich.«
»Es ist ein stichhaltiges Argument«, sagte er und stützte sich mit einer Hand neben ihrer Schulter auf. »Du weißt genausogut wie ich, daß es in Kirkwoods Geschichte Ungereimtheiten gibt.«
»Es ist ein großer Sprung von ›Können Sie beweisen, daß Sie sich gerade im Hardee ' s Drive-in einen Burger gekauft haben, als Ihr Sohn entführt wurde?‹ zu ›Stimmt es nicht, daß Sie Ihren eigenen Sohn entführt haben?‹« sagte Ellen. Gleichzeitig verdrängte sie die leise Stimme der Wahrheit, die sie daran erinnerte, daß ihr selbst bei Pauls Ausreden auch nicht wohl gewesen war. »Dein Klient ist auf frischer Tat ertappt worden.«
»Er hat ein Alibi für den Abend, an dem Josh Kirkwood entführt wurde.«
»Das genauso falsch ist wie deine Sonnenbräune Er hat keine Zeugen, die bestätigen können . . .«
»Da muß ich dich korrigieren, Ellen.« Mit einem widerlichen Funkeln der Vorfreude in den dunklen Augen stellte er seine Aktentasche auf einen Verteidigertisch, öffnete sie und holte einige Papiere heraus. »Bekanntgabe usw. Fröhliches Lesen.«
Ellen überflog die erste Seite, auf die einer von Tonys Assistenten eine ausschweifende Erklärung für die Tatsache getippt hatte, daß sie noch keine schriftlichen Aussagen der Zeugen hatten. Wirklich ein Witz. Tony würde nie vor einem Prozeß eine schriftliche Aussage aufnehmen, weil er sonst verpflichtet wäre, sie der Anklage auszuhändigen. Auf der zweiten Seite wurde Wrights Alibi für den Abend von Joshs Entführung geschildert. Wie er wiederholt ausgesagt habe, stand da, sei er in seinem Büro im Cray-Gebäude gewesen, im Harris College. Was er bisher nicht gesagt hatte, war, daß er in Gesellschaft eines Studenten gearbeitet hatte – Todd Childs.
Ellens Herzschlag beschleunigte sich. Sie blätterte weiter zur Zeugenliste, und eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Ganz oben auf der Liste stand Todd Childs, 966 , Tenth Street NW, Apartment B.
»Wann hast du mit Todd Childs gesprochen?« fragte sie vorsichtig.
»Spielt das eine Rolle?«
»Es spielt insofern eine Rolle, als er vor der Polizei ausgesagt hat, er sei an diesem Abend nicht mit Dr. Wright zusammengewesen.«
»Er wird einen Eid schwören, daß
Weitere Kostenlose Bücher