Defcon One 01 - Angriff auf Amerika
des Gebäudes aufgefordert. Harold Tucker hatte sich geweigert, in einen der Fahrstühle zu steigen, denn wenn wirklich etwas mit dem Turm geschehen sollte, dann war es ihm nur Recht, wenn er dabei mit in die Tiefe gerissen wurde.
Tucker sah die Dinge so klar wie nie zuvor. Er wusste, dass etwas Schreckliches geschehen würde, sein eigener Tod inbegriffen. Und wie immer dieser Tod auch ausschauen würde, er hatte nicht die geringste Angst davor. Denn wenn diese Stadt ihr Wahrzeichen verlor, war sein Lebensinhalt für immer ausgelöscht. Wenn der Turm fiel, würde der Bauer mit ihm stürzen.
Tucker fiel es nicht schwer, sich aus einer Zeit zu verabschieden, in der die Menschen der fiesen Fratze des Terrorismus ausgesetzt waren. Und was hier um ihn herum geschah, war eindeutig das Werk eines Terroristen. Vor weniger als dreißig Minuten hatte er noch gedacht, die geheimnisvolle Ankündigung von Mr Singh würde Wirklichkeit werden und ein Abschiedsgeschenk der ganz besonderen Art auf ihn warten. In dem Moment, als die ersten Polizeihubschrauber die Aussichtsplattform unter ihre Lupe nahmen, war für Tucker die Gewissheit da, dass alles nur ein schöner Tagtraum gewesen war. Man hatte ihn ausgenutzt, ausspioniert und in seinen Gefühlen verletzt.
Jetzt stand er hier, mit diesem neumodischen Handy in der Tasche, und blickte in den Himmel, während ihm gegenüber ein Mann im Helikopter ausholende Armbewegungen machte.
Tucker war es egal, was man ihm mitteilen wollte. Das Spiel war aus, und der Mann mit der Sense wartete bereits. In irgendeinem schlechten Spielfilm hatte er einmal gehört, wie ein alter Indianer gesagt hatte, dass heute ein guter Tag zum Sterben sei. Tucker stellte fest, dass dieser Tag wunderschön war und man wenigstens noch einmal die grandiose Kulisse und Landschaft genießen konnte. Er war bereit zu sterben. Er war bereit, mit dem sinkenden Schiff unterzugehen. Im Unterbewusstsein registrierte er, wie sich alle Helikopter langsam von seinem Wolkenkratzer weg bewegten und sich die letzten Geräusche aufheulender Polizeisirenen aus den Straßenschluchten unter ihm in der Ferne verliefen. Dann wurde es still, fast totenstill. Nur der Wind wehte wie eine sanfte Melodie um die Spitze des Turms und erlaubte es den Tauben, ihr monotones Gurren dazu beizutragen. Noch einmal schaute der alte Mann über die Steinwüste aus Beton, Stahl und Glas, und seine letzten Blicke galten dem Central Park, wo sich hinter dem Jackie Onassis Reservoir ungewöhnlich viele Menschen aufzuhalten schienen.
Es war genau 15.15 Uhr, als sich das Geschenk von Mr Singh mit einer unüberhörbaren und bekannten Folge von Tönen bemerkbar machte. Es war die amerikanische Nationalhymne, The Star Spangled Banner . Harold Tucker lächelte und nahm das Telefon aus seiner Manteltasche. Langsam schritt er auf das metallene Absperrgitter zu. Über seine Wange rollte eine Träne und stürzte, vom Wind getragen, einem unbekannten Ort entgegen.
KAPITEL 26
11.02., 15.15 Uhr
Washington D.C., Weißes Haus
G eorge T. Gilles, Staatsoberhaupt und Regierungschef der Vereinigten Staaten, Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte und für die nächsten vier Jahre aufgrund des Supermachtstatus der USA mächtigster Mann der Welt, lehnte aufrecht stehend mit seinem Rücken an dem Rednerpult im Situation Room und sah auf dem großen Videomonitor dem Mann in die Augen, der vier Autostunden entfernt alleine auf dem Empire State Building stand und soeben den Anruf entgegen genommen hatte, der aus diesem Raum gegangen war. Spacy hatte über die Leitzentrale in New York eine Direktübertragung der Bilder aus dem NYPD Helikopter, in dem John D`Allara vom SWAT-Team saß, herstellen lassen. Aus einer sicheren Entfernung zwischen Helikopter und Wolkenkratzer lieferte die Kamera gestochen scharfe Bilder, die allerdings ein wenig schwankten, da der Hubschrauberpilot aufgrund der Winde die Maschine nicht ganz ruhig halten konnte. Auf den anderen Monitoren liefen die TV-Übertragungsbilder der Nachrichtensender; teils aus der Luft, teils vom Boden aus, per Tele aufgenommen. Sie zeigten die vier schwarzen Trucks, die verängstigten Menschenmassen in den weiter außerhalb liegenden Blocks, und den alten Mann auf dem Dach des Empire State Building. Der gesamte Verkehr in New York war zum Erliegen gekommen. Überall, wo in Schaufenstergeschäften oder an Fassaden angebrachten Großbildleinwänden die Live-Übertragungen gezeigt wurden, starrten die Menschen wie
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