Defekt
zwar, aber es stimmt.
„Gerade Sie sollten doch wissen, was das Wort
>Arztgeheimnis< bedeutet“, erwidert sie nur.
„Ich habe gehofft, ich könnte Ihnen begreiflich
machen, dass wir Grund zu großer Sorge um das Wohlergehen von David, seinem
Bruder und von den beiden Frauen haben, bei denen die Jungen gelebt haben.“
„Hat schon einmal jemand daran gedacht, dass die
Jungen Heimweh nach Südafrika gehabt haben könnten? Damit will ich nicht sagen,
dass es so sein muss“, fügt Dr. Seif hinzu. „Es ist nur eine Hypothese.“
„Die Eltern sind im vergangenen Jahr in Kapstadt ums
Leben gekommen“, antwortet Scarpetta. „Ich habe mit dem zuständigen
Gerichtsmediziner gesprochen, der ...“
„Ja, ja“, fällt Dr. Seif ihr ins Wort. „Eine
Tragödie.“
„Waren beide Jungen Ihre Patienten?“
„Können Sie sich vorstellen, wie traumatisierend das
gewesen sein muss? Soviel ich den Gesprächen mit den Jungen außerhalb der
Sitzungen entnehmen konnte, war die Pflegefamilie nur eine Übergangslösung.
Meiner Ansicht nach stand von Anfang an fest, dass sie zu gegebener Zeit nach
Kapstadt zurückkehren würden, um bei Verwandten zu leben, die zuvor, wenn ich
es recht verstehe, erst in ein größeres Haus umziehen mussten.“
Wahrscheinlich ist es unklug von ihr, so viele
Einzelheiten zu erwähnen, aber ihr gefällt dieses Gespräch mit Scarpetta
einfach zu sehr, und sie möchte es deshalb noch nicht beenden.
„Wer hat die Kinder an Sie überwiesen?“, erkundigt
sich Scarpetta.
„Ev Christian hat sich mit mir in Verbindung
gesetzt. Sie kannte mich natürlich aus meinen Sendungen.“
„Bestimmt geschieht es öfter, dass Menschen sich
Ihre Sendung anhören und anschließend zu Ihnen in Behandlung wollen.“
„Richtig.“
„Und das heißt vermutlich, dass Sie die meisten
ablehnen müssen.“
„Was bleibt mir anderes übrig?“
„Weshalb haben Sie sich dann entschieden, David und
auch seinen Bruder anzunehmen?“
Dr. Seif bemerkt zwei Personen draußen bei ihrem
Swimmingpool. Es sind zwei Männer mit weißen Hemden, schwarzen Baseballkappen
und dunklen Brillen, die sich ihre Obstbäume und die roten Streifen an den
Stämmen ansehen.
„Offenbar treiben sich fremde Leute auf meinem
Grundstück herum“, brummt sie verärgert.
„Pardon?“
„Diese verdammten Kontrolleure. Meine morgige
Fernsehsendung wird sich mit diesem Thema befassen. Tja, jetzt werden sie
sich warm anziehen müssen. Spazieren einfach so mir nichts, dir nichts auf mein
Grundstück. Ich muss jetzt leider aufhören.“
„Es ist sehr wichtig, Dr. Seif. Ich würde Sie nicht
belästigen, wenn es keinen Grund ...“
„Ich habe es wirklich schrecklich eilig, und jetzt
auch noch das. Diese Schwachköpfe sind zurückgekommen, vermutlich, um meine
wunderschönen Bäume zu fällen. Wenn die wirklich mit einer Truppe von geistig
minderbemittelten Holzfällern hier anrücken, können die sich auf etwas gefasst
machen. Wissen Sie was?“, spricht Dr. Seif in drohendem Tonfall weiter. „Falls
Sie weitere Informationen von mir benötigen, müssen Sie sich eine richterliche
Anordnung oder eine Erlaubnis des Patienten beschaffen.“
„Ziemlich schwierig, wenn der Patient verschwunden
ist.“
Dr. Seif legt auf, tritt in den sonnigen, heißen
Morgen hinaus und steuert zielstrebig auf die beiden Männer zu, auf deren weißen
Hemden sie bei näherer Betrachtung ein Emblem entdeckt. Es ist dasselbe wie auf
ihren Kappen. Hinten auf den Hemden prangt in großen schwarzen Buchstaben die
Aufschrift „Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerium Florida“. Ein
Kontrolleur macht sich an einem Palmtop-Computer zu schaffen, sein Kollege
telefoniert.
„Entschuldigung“, beginnt Dr. Seif in streitlustigem
Ton. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Morgen. Wir kommen vom Landwirtschaftsministerium
und sollen Ihre Zitrusbäume untersuchen“, erwidert der Mann mit dem Palmtop.
„Das sehe ich selbst“, stellt Dr. Seif mit finsterer
Miene fest.
Die beiden tragen grüne Dienstausweise mit Foto.
Doch da Dr. Seif ihre Brille nicht aufgesetzt hat, kann sie die Namen nicht
entziffern.
„Wir haben geläutet und dachten, es wäre niemand
da.“
„Also spazieren Sie in aller Seelenruhe auf mein
Grundstück“, entgegnet Dr. Seif.
„Wir sind befugt, offene Gärten zu betreten, und wie
ich schon sagte, dachten wir, dass niemand da ist. Wir haben mehrmals
geläutet.“
„In meinem Büro kann ich die Klingel nicht hören“,
sagt sie, als
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