Defekt
zehn.
Die Tür geht auf, und zwei Männer kommen herein.
Zwei weitere Minuten verstreichen. „Irgendetwas
stimmt da nicht“, teilt sie Marino mit. „Ich gehe raus und sehe nach. Du
bleibst hier.“
Lucy schlendert den Ocean Drive entlang durch den
Art Deco District und hält in der Menschenmenge Ausschau nach Stevie.
Jetzt, zu vorgerückter Stunde, sind die meisten
Passanten in South Beach angeheitert, und auf der Straße drängen sich so viele
spazieren fahrende und einen Parkplatz suchende Autos, dass ein Vorankommen
kaum noch möglich ist. Die Suche nach Stevie ist zwecklos. Sie hat Lucy
versetzt und befindet sich wahrscheinlich viele Kilometer weit weg von hier.
Aber Lucy gibt nicht auf.
Sie erinnert sich an Stevies Behauptung, sie sei
Lucys Fußabdrücken im Schnee bis zum Hummer gefolgt, der hinter dem Anchor Inn
parkte. Inzwischen fragt sie sich, warum sie diese Aussage so einfach für bare
Münze genommen hat. In der Nähe der Hütte waren Lucys Fußabdrücke zwar deutlich
zu erkennen, doch auf dem Gehweg wären sie sicher von anderen Spuren
überlagert worden. Schließlich ist Lucy an diesem Morgen nicht als Einzige
durch Provincetown spaziert. Sie denkt an das Mobiltelefon, das in Wirklichkeit
einem Mann namens Doug gehört, an die roten Handabdrücke und an Johnny. Ihre
eigene Unachtsamkeit, Blindheit und Lust an der Selbstzerstörung widern sie an.
Vermutlich hatte Stevie niemals vor, die Verabredung
mit Lucy im Deuce einzuhalten. Sie hat nur mit ihr gespielt, so wie an jenem
Abend im Lorraine's. Stevie ist mit allen Wassern gewaschen und Spezialistin
in Sachen kranke, abartige Spielchen.
„Siehst du sie irgendwo?“, hört sie Marinos Stimme
in ihrem Ohr.
„Ich kehre um“, antwortet Lucy. „Bleib, wo du bist.“
Sie überquert die 11th Street und geht in nördlicher
Richtung auf der Washington Avenue am Justizgebäude vorbei, als ein weißer
Chevy Blazer mit dunkel getönten Scheiben vorbeifährt. Lucy beschleunigt ihren
Schritt. Auf einmal ist ihr ziemlich mulmig zumute; sie atmet schwer, und sie
ist froh über ihre Pistole im Knöchelhalfter.
49
Wieder tobt ein Wintersturm durch Cambridge. Benton
kann die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite kaum erkennen. Dicke
Schneeflocken fallen senkrecht vom Himmel, und Benton beobachtet, wie die Welt
ringsherum unter der weißen Pracht versinkt.
„Wenn du möchtest, mache ich noch Kaffee“, schlägt
Scarpetta vor, die gerade ins Wohnzimmer kommt.
„Ich hatte genug“, erwidert er und kehrt ihr den
Rücken zu.
„Ich auch“, antwortet sie.
Er hört, wie sie sich auf die Ofenbank setzt und
eine Kaffeetasse abstellt. Als er ihren Blick auf sich spürt, dreht er sich um
und sieht sie an, ohne zu wissen, was er sagen soll. Ihr Haar ist nass, und sie
trägt einen Morgenmantel aus schwarzer Seide. Darunter ist sie nackt. Der
glatte Stoff liebkost ihre Haut und gibt den Blick auf die tiefe Grube zwischen
ihren Brüsten frei, weil sie, die starken Arme um die Knie geschlungen,
vornübergebeugt und seitlich auf der Ofenbank sitzt. Für ihr Alter hat sie
noch eine makellos glatte Haut. Der Feuerschein fällt auf ihr kurzes blondes
Haar und ihr ausgesprochen schönes Gesicht. Feuer und Sonne schmeicheln ihrem
Haar und ihren Zügen, die er so sehr liebt. Und er liebt sie von ganzem Herzen,
auch wenn ihm im Moment die richtigen Worte fehlen. Er weiß nicht, wie er den
Schaden wieder gutmachen soll.
Letzte Nacht hat sie gesagt, sie werde ihn
verlassen. Wenn sie einen Koffer dabeigehabt hätte, hätte sie ihn gepackt, aber
sie bringt nie einen Koffer mit. Sie hat ihre Sachen hier, ist auch hier zu
Hause. Den ganzen Vormittag hat er auf das Geräusch von Schubladen und
Schranktüren gelauscht, darauf, dass sie auszieht und nie zurückkommt.
„Du kannst nicht mit dem Auto fahren“, sagt er.
„Sieht aus, als würdest du festsitzen.“
Die kahlen Bäume heben sich wie zarte
Bleistiftzeichnungen von dem schimmernden Weiß ab. Nirgendwo ist ein Auto zu
sehen.
„Ich weiß, wie du dich fühlst und was du willst“,
spricht er weiter, „aber heute fährst du nirgendwo hin. So wie alle anderen
auch. Einige Straßen in Cambridge werden nicht sofort geräumt, und unsere
gehört dazu.“
„Du hast doch einen Wagen mit Allradantrieb“, wendet
sie ein und betrachtet ihre Hände, die auf ihrem Schoß liegen.
„Es sind sechzig Zentimeter Neuschnee vorhergesagt.
Selbst wenn ich dich zum Flughafen bringen könnte, würde heute keine
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