Defekt
hypersexualisierten Narzisstin. Deiner Schwester. Hinzu kommt
Lucys Hochbegabung. Sie denkt nicht wie andere Menschen. Und außerdem ist sie
lesbisch. Wenn man das alles zusammenzählt, kommt dabei ein Mensch heraus, der
schon vor langer Zeit gelernt hat, sich nur auf sich selbst zu verlassen.“
„Eine ausgesprochene Egoistin, meinst du.“
„Psychische Kränkungen können uns zu Egoisten
machen.
Lucy hat befürchtet, du könntest dich ihr gegenüber
anders verhalten, wenn du von ihrem Tumor erfährst, und das wiederum hätte
ihre geheimen Ängste genährt. Erst wenn man es weiß, wird es Wirklichkeit.“
Scarpetta starrt aus dem Fenster hinter Benton, als
wäre der Schnee der faszinierendste Anblick ihres Lebens. Er liegt bereits
mindestens zwanzig Zentimeter hoch, und die Autos am Straßenrand erinnern
inzwischen eher an Schneehaufen. Nicht einmal die Nachbarskinder spielen im
Freien.
„Ein Glück, dass ich noch einkaufen gegangen bin“,
stellt Benton fest.
„Apropos: Dann werde ich mal sehen, was ich uns zum
Mittagessen zaubern kann. Wir sollten uns ein gutes Mittagessen gönnen und
versuchen, uns einen schönen Tag zu machen.“
„Hattest du schon mal mit einem bemalten Körper zu
tun?“, fragt er.
„Meinst du damit meinen oder den eines Mordopfers?“
Benton schmunzelt. „Deinen bestimmt nicht, denn du
bist eindeutig noch am Leben. Es geht um einen Fall. Die Leiche war mit roten
Handabdrücken bemalt. Mich würde interessieren, ob die Bemalungen vor oder nach
ihrem Tod angebracht wurden. Schade, dass sich das nicht herausfinden lässt.“
Sie mustert ihn lange. Hinter ihr züngeln Flammen,
und das Feuer knistert laut im Kamin.
„Wenn es vor ihrem Tod geschehen ist, müssen wir von
einem völlig anderen Tätertyp ausgehen. Es muss schrecklich und erniedrigend
gewesen sein“, sagt er. „Gefesselt zu werden ...“
„Wissen wir, dass sie gefesselt wurde?“
„Sie weist Spuren an Knöcheln und Handgelenken auf.
Gerötete Stellen, die von der Gerichtsmedizin als mögliche Blutergüsse
bezeichnet werden.“
„Möglich?“
„Sie könnten auch nach dem Tod entstanden sein“,
antwortet Benton. „Insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Leiche lange
der Kälte ausgesetzt war. Das sagt sie zumindest.“
„Sie?“
„Die hiesige Chefpathologin.“
„Ein Relikt aus der nicht gerade ruhmreichen
Vergangenheit der Bostoner Gerichtsmedizin“, meint Scarpetta. „Ein Jammer. Sie
hat es ganz allein geschafft, den Laden mehr oder weniger
herunterzuwirtschaften.“
„Ich würde mich freuen, wenn du dir den Bericht
einmal ansehen könntest. Ich habe ihn auf CD. Vor allem interessiert mich deine
Meinung zu den Körpermalereien und den übrigen Ergebnissen. Für mich ist es
wirklich wichtig, zu wissen, ob die Frau vor oder nach ihrem Tod bemalt worden
ist. Ein Jammer, dass wir ihr Gehirn nicht abtasten und die Ereignisse einfach
abspielen können.“
„Ich bin sicher, dass du dir einen solchen Albtraum
niemals wünschen würdest“, sagt Scarpetta, als hätte Benton diese letzte
Bemerkung ernst gemeint. „Nicht einmal du würdest so etwas sehen wollen.
Vorausgesetzt, es wäre möglich.“
„Basil hätte gerne, dass ich es mir anschaue.“
„Ja, der liebe Basil“, seufzt sie, und es gefällt
ihr gar nicht, dass Basil Jenrette inzwischen eine Rolle in Bentons Leben
spielt.
„Würdest du dir, rein theoretisch betrachtet, eine
solche Szene anschauen wollen, falls das ginge?“, fragt er.
„Selbst wenn es einen Weg gäbe, die letzten
Lebensmomente eines Menschen noch einmal Revue passieren zu lassen“, wendet
sie ein, „wäre das vermutlich nicht sehr zuverlässig. Denn aller
Wahrscheinlichkeit nach besitzt das Gehirn die bemerkenswerte Fähigkeit,
Vorgänge so zu verarbeiten, dass dabei möglichst wenig Leid und Schmerz
entstehen.“
„Wahrscheinlich würden einige Menschen so etwas
abspalten“, antwortet er. Sein Mobiltelefon läutet.
Es ist Marino.
„Ruf die Durchwahl zweidreiundvierzig an“, sagt er.
„Sofort.“
50
Die Durchwahl 243 gehört dem Labor zur Untersuchung
von Fingerabdrücken. Außerdem versammeln sich dort gern die Angestellten der
Akademie, um Untersuchungsergebnisse zu erörtern, zu deren Deutung eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig ist.
Heutzutage sind Fingerabdrücke nicht einfach nur
Fingerabdrücke. Sie können auch eine Quelle von DNA-Spuren sein, und zwar
nicht nur des Menschen, der sie hinterlassen, sondern auch des Opfers,
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