Defekt
ein
hübscher Anblick. Aber Lucy will nichts mehr mit ihr zu tun haben und fühlt
sich wieder von den roten Handabdrücken abgestoßen.
„Erinnerst du dich, dass ich dich gestern Nacht
danach gefragt habe?“, beginnt Lucy mit einem Blick auf die Handabdrücke.
„Du hast mich gestern Nacht eine ganze Menge gefragt.“
„Ich habe dich gefragt, wo du dir die hast machen
lassen.“
„Warum kommst du nicht wieder ins Bett?“ Stevie
klopft auf die Matratze, und ihre Augen scheinen Löcher in Lucys Haut zu
brennen.
„Das muss doch wehgetan haben. Außer sie sind nur
aufgemalt, was ich eigentlich eher glaube.“
„Man kriegt sie mit Nagellackentferner oder Babyöl
ab. Aber ich bin sicher, dass du keins von beidem dahast.“
„Und warum hast du das gemacht?“ Lucy starrt auf die
Handabdrücke.
„Das war nicht meine Idee.“
„Wessen Idee dann?“
„Von einer Frau, die mich nervt. Sie malt sie auf,
und ich muss sie dann wieder wegmachen.“
Lucy mustert Stevie mit finsterem Blick. „Du lässt
dich von anderen Leuten anmalen? Irgendwie schräg.“ Bei der Vorstellung, dass
eine fremde Frau Stevies nackten Körper bemalt, regt sich leise Eifersucht. „Du
brauchst mir nicht zu verraten, wer es war“, fügt sie trotzdem hinzu, als wäre
es nicht weiter von Bedeutung.
„Besser, wenn man derjenige ist, der malt“, sagt
Stevie, und Lucy wird wieder von Eifersucht ergriffen. „Komm her“, fordert
Stevie sie dann mit ihrer beruhigenden Stimme auf und klopft wieder aufs Bett.
„Wir müssen los. Ich habe viel zu tun“, erwidert
Lucy und geht, eine schwarze Cargohose, einen dicken schwarzen Pullover und
ihre Pistole in der Hand, in das kleine an das Schlafzimmer angrenzende Bad.
Sie schließt die Tür und verriegelt sie. Dann zieht
sie sich aus, ohne sich im Spiegel anzusehen, und wünscht dabei, das, was da
gerade mit ihrem Körper geschieht, wäre nur Einbildung oder ein Albtraum. Unter
der Dusche tastet sie sich ab, um festzustellen, ob sich etwas verändert hat,
und vermeidet auch beim Abtrocknen den Blick in den Spiegel.
„Schau dich nur an“, meint Stevie, als Lucy
angezogen, geistesabwesend und mit noch schlechterer Laune als vorhin aus dem
Bad kommt. „Du siehst aus wie eine Geheimagentin. Wirklich faszinierend. Ich
war gern wie du.“
„Du kennst mich doch gar nicht.“
„Nach der letzten Nacht kenne ich dich gut genug“,
entgegnet Stevie und mustert Lucy von oben bis unten. „Wer wäre nicht gern so
wie du? Du fürchtest dich vor nichts. Gibt es etwas, wovor du Angst hast?“
Als Lucy sich vorbeugt und das Bettzeug um Stevie
herum glatt streicht, bis ihr Körper ganz nah über Stevies ist, verändert sich
Stevies Miene. Sie erstarrt und senkt den Blick zur Bettdecke.
„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht kränken“, sagt
Stevie kleinlaut, und ihre Wangen röten sich.
„Es ist kalt hier drin. Ich habe dich nur zugedeckt,
weil ...“
„Schon gut. Das ist mir schon öfter passiert.“ Als
Stevie den Kopf hebt, mischen sich abgrundtiefe Trauer und Angst in ihrem
Blick. „Du findest mich hässlich, richtig? Fett und hässlich. Ich gefalle dir
nicht. Bei Tageslicht magst du mich nicht mehr.“
„Du bist alles andere als fett oder hässlich“,
antwortet Lucy. „Und du gefällst mir. Das Problem ist nur ... Mist, tut mir
Leid. Das wollte ich nicht...“
„Es überrascht mich überhaupt nicht. Aus welchem
Grund sollte auch jemand wie du sich für mich interessieren?“, gibt Stevie
zurück, wickelt sich die Decke um und zieht sie vom Bett, sodass sie sie beim
Aufstehen völlig bedeckt. „Schließlich könntest du jede haben. Ich bin dankbar
dafür, wirklich. Vielen Dank. Ich werde es auch niemandem verraten.“
Sprachlos sieht Lucy zu, wie Stevie ihre Sachen aus
dem Wohnzimmer holt und sich zitternd anzieht. Ein merkwürdiges Zucken spielt
um ihre Lippen.
„Mein Gott, bitte, wein nicht, Stevie.“
„Nenn mich wenigstens beim richtigen Namen!“
„Was soll das bedeuten?“
„Ich würde jetzt gern gehen“, sagt Stevie, und Angst
zeichnet sich in ihren großen dunklen Augen ab. „Ich werde es auch niemandem
verraten. Danke. Ich bin wirklich sehr dankbar.“
„Was redest du da?“, fragt Lucy.
Stevie greift nach ihrem langen schwarzen
Kapuzenmantel und schlüpft hinein. Durch das Fenster blickt Lucy ihr nach, wie
sie durch den Schneesturm geht. Der schwarze Mantel umweht ihre hohen schwarzen
Stiefel.
9
Eine halbe Stunde später zieht Lucy
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