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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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den
Schulterblättern“, erwidert Dr. Lonsdale. „Der Größe nach scheinen es
Männerhände zu sein.“
    „Ja“, bestätigt Thrush.
    Dr. Lonsdale dreht die Leiche ein Stück zur Seite,
damit Benton die Abdrücke auf dem Rücken betrachten kann.
    „Offenbar hat sie hier eine Art Abschürfung“, stellt
er fest, als er eine wunde Stelle auf dem Abdruck zwischen den Schulterblättern
erkennt. „Irgendeine Entzündung.“
    „Ich bin nicht mit sämtlichen Einzelheiten
vertraut“, rechtfertigt sich Dr. Lonsdale. „Es ist ja nicht mein Fall.“
    „Sieht aus, als wäre die Malerei angebracht worden,
nachdem sie sich die Abschürfung zugezogen hat“, stellt Benton fest. „Außerdem
sehe ich hier Striemen.“
    „Vielleicht eine lokale Schwellung. Das müsste uns
die Histologie beantworten. Es ist nicht mein Fall“, erinnert Dr. Lonsdale sie
noch einmal. „Ich war an der Autopsie nicht beteiligt, sondern habe nur einen
kurzen Blick auf die Tote geworfen. Und zwar erst, bevor ich sie vorhin
rausgeschoben habe. Allerdings habe ich mir kurz den Autopsiebericht
angesehen.“
    Falls sich herausstellen sollte, dass seine
Vorgesetzte schlampig oder inkompetent war, wird er natürlich jegliche Verantwortung
zurückweisen.
    „Haben Sie eine Vermutung, wie lange sie schon tot
ist?“, fragt Benton.
    „Tja, bei der Kälte hat sich die Totenstarre
natürlich verzögert.“
    „War die Leiche denn gefroren, als sie gefunden
wurde?“
    „Noch nicht. Offenbar betrug ihre Körpertemperatur
bei der Einlieferung fünf Grad Celsius. Ich war nicht am Fundort und weiß
deshalb auch nicht mehr.“
    „Um zehn Uhr heute Morgen hatten wir fünf Grad unter
Null“, sagt Thrush zu Benton. „Die Wetterbedingungen finden Sie auch auf der
CD, die ich Ihnen gegeben habe.“
    „Also wurde der Autopsiebericht bereits diktiert“,
merkt Benton an.
    „Alles auf der CD“, wiederholt Thrush.
    „Spuren?“
    „Ein wenig Erde, Fasern und weitere Fragmente, die
im Blut kleben geblieben sind“, antwortet Thrush. „Ich bringe alles so schnell
wie möglich ins Labor.“
    „Erzählen Sie mir von der sichergestellten
Patronenhülse“, fordert Benton ihn auf.
    „Sie steckte in ihrem Rektum. Da man sie von außen
nicht sehen konnte, wurde sie erst beim Röntgen entdeckt. Eine vertrackte
Sache. Als ich die Aufnahme sah, dachte ich zunächst, dass die Hülse unter der
Leiche auf der Bahre liegt. Ich hätte nie geglaubt, dass sich das verdammte
Ding in ihrem Körper befindet.“
    „Aus welcher Waffe stammt sie?“
    „Einer Remington Express Magnum, Kaliber zwölf.“
    „Wenn sie sich selbst erschossen hat, hat sie sich
das Ding schlecht nach der Tat ins Rektum schieben können“, meint Benton.
„Lassen Sie es in der NIBIN-Datenbank überprüfen?“
    „Wird bereits erledigt“, entgegnet Thrush. „Der
Schlagbolzen hat eine hübsche Kratzspur hinterlassen. Vielleicht haben wir ja
Glück.“
     
    8
     
    Früh am nächsten Morgen weht der Schnee horizontal
über die Cape Cod Bay heran und schmilzt, sobald er das Wasser berührt. Während
die Flocken den bräunlichen Streifen Strand vor Lucys Fenster nur mit einer
zarten Schicht überzuckern, bedecken sie dick die umliegenden Hausdächer und
den Balkon unter ihrem Schlafzimmer. Lucy zieht die Daunendecke hoch und blickt
auf das Wasser und den Schnee hinaus. Es gefällt ihr gar nicht, dass sie jetzt
aufstehen und sich mit der Frau beschäftigen muss, die schlafend neben ihr
liegt: Stevie.
    Lucy hätte gestern Abend nicht ins Lorraine's gehen
sollen. Doch sosehr sie es auch bereut, sie kann es nicht mehr rückgängig
machen. Sie widert sich selbst an, will nur raus aus diesem winzigen Haus mit
der Veranda, dem Schindeldach, den von viel zu vielen Mietern abgewohnten
Möbeln und der kleinen muffigen Küche mit den altmodischen Geräten. Sie beobachtet,
wie der frühe Morgen mit dem Horizont spielt und ihn in unterschiedliche
Farbtöne taucht. Es schneit fast ebenso heftig wie in der letzten Nacht. Lucy
denkt an Johnny Eine Woche vor seinem Tod ist er hierher nach Provincetown
gekommen und hat sich mit jemandem getroffen. Das hätte Lucy eigentlich schon
vor langer Zeit herauskriegen sollen. Hat sie aber nicht, weil sie die Augen
davor verschlossen hat. Sie schaut Stevies regelmäßigem Atmen zu.
    „Bist du wach?“, sagt Lucy. „Du musst jetzt
aufstehen.“
    Sie starrt in den Schnee hinaus, beobachtet die
Enten, die auf der bewegten grauen Bucht schaukeln, und fragt sich, warum sie
nicht

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