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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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hat.
    Das Gewehr im Arm, geht er auf das verfallene Haus
zu. Er lauscht dem gedämpften Rauschen des Verkehrs auf der South 27, aber
niemand hat einen Grund, hierher zu kommen. Irgendwann vielleicht, allerdings
nicht im Moment. Als er auf die baufällige Veranda tritt, gibt eine Diele
unter ihm nach. Er schiebt die Tür auf und geht in den dunklen, stickigen Raum,
in dem alles dick mit Staub bedeckt ist. Selbst an einem sonnigen Tag ist es im
Haus bedrückend düster, und heute zieht ein Gewitter % heran. Obwohl es schon
acht Uhr ist, ist es im Haus stockfinster wie in der Nacht. Ihm bricht der Schweiß
aus.
    „Sind Sie es?“ Die Stimme kommt aus der Dunkelheit
im hinteren Teil des Hauses, wo sie auch hingehört.
    An der Wand steht ein provisorischer Tisch aus
Sperrholz und Betonbausteinen mit einem kleinen Aquarium aus Glas darauf. Er
richtet die Waffe auf das Aquarium und drückt auf das Bedienungspad an der
Seite, worauf grelles Xenon-Licht das Glas und die schwarzen Umrisse der
Tarantel darin beleuchtet. Reglos wie eine dunkle Hand sitzt sie in einem
Gemisch aus Sand und Holzspänen neben dem Wasserschwamm und ihrem
Lieblingsstein. In einer Ecke des Aquariums hat das Licht kleine Zikaden
aufgeschreckt.
    „Bitte sagen Sie etwas“, ruft die Stimme, fordernd
zwar, aber schwächer als noch vor einem knappen Tag.
    Er ist nicht sicher, ob er sich freut, dass die Stimme
noch lebt, aber vermutlich schon. Nachdem er den Deckel des Aquariums entfernt
hat, unterhält er sich ruhig und freundlich mit der Spinne. Ihr Bauch ist kahl
und mit Leim und hellgelbem Blut verkrustet, und Hass ergreift ihn, als er
daran denkt, warum sie kahl ist und fast verblutet wäre. Das Haar der Spinne
wird erst bei der nächsten Mauser nachwachsen, und ob die Verletzungen jemals
heilen, steht noch nicht fest.
    „Du weißt sicher, wer schuld daran ist“, sagt er zu
der Spinne. „Und ich habe etwas unternommen.“
    „Kommen Sie“, ruft die Stimme. „Können Sie mich
hören?“
    Die Spinne rührt sich nicht. Vielleicht wird sie
sterben. Die Wahrscheinlichkeit ist sogar ziemlich hoch.
    „Tut mir Leid, dass ich so viel unterwegs bin.
Bestimmt bist du einsam“, sagt er zu der Spinne. „Aber wegen deines Zustandes
konnte ich dich nicht mitnehmen. Die Fahrt war sehr weit, und außerdem war es
kalt.“
    Er greift in das Aquarium und streichelt sanft die
Spinne. Sie rührt sich kaum.
    „Sind Sie es?“ Die Stimme ist zwar schwächer und klingt
heiser, aber fordernd.
    Er versucht, sich vorzustellen, wie es sein wird,
wenn diese Stimme einmal nicht mehr ist. Dann denkt er an das tote Ding, das
steif und voller Fliegen im Staub liegt.
    „Sind Sie es?“
    Die Finger gegen das Bedienungspad gedrückt, damit
das Licht in dieselbe Richtung deutet wie die Waffe, beleuchtet er den mit
Dreck verkrusteten und mit den Überresten vertrockneter Insekteneier bedeckten
Holzboden. Seine Schritte folgen dem sich bewegenden Licht.
    „Hallo? Wer ist da?“
     
    16
     
    Im Schusswaffen-Labor drapiert Joe Arnos eine
schwarze Harley-Davidson-Lederjacke um einen vierzig Kilo schweren Block
ballistischer Gelatine. Darauf sitzt ein kleinerer Block mit einem Gewicht von
zehn Kilo, ausgestattet mit einer Sonnenbrille von Ray-Ban und einem schwarzen
Biker-Kopftuch, verziert mit Totenschädel und gekreuzten Knochen.
    Joe tritt zurück, um sein Werk zu bewundern. Er ist
zwar zufrieden, allerdings ein wenig müde, denn er ist mit seiner neuen
Lieblingsschülerin lange aufgeblieben und hat zu viel Wein getrunken.
    „Sieht lustig aus, findest du nicht?“, sagt er zu
Jenny.
    „Lustig, aber fies. Du verrätst ihm besser nichts.
Ich habe gehört, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen ist“, erwidert sie. Sie
sitzt auf einer Arbeitsfläche.
    „Ich bin derjenige, mit dem man sich nicht anlegen
sollte. Ich überlege mir, ob es nicht nett wäre, die nächste Portion Gelatine
mit roter Lebensmittelfarbe zu versetzen, damit es mehr wie Blut aussieht.“
    „Cool.“
    „Dann noch ein bisschen Braun dazu, dann erinnert es
gleich an Verwesung. Vielleicht finde ich ja einen Weg, es stinken zu lassen.“
    „Du und deine Horror-Szenen.“
    „Ich habe eben viel Phantasie. Außerdem tut mir der
Rücken weh“, sagt er und betrachtet weiter sein Werk. „Ich habe mir den Rücken
verletzt, und ich werde sie verklagen.“
    Die Gelatine, ein elastisches, transparentes
Material, das aus denaturierten Tierknochen und aus Bindegewebe gewonnenem
Collagen besteht, ist nicht leicht zu

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