Defekt
ab, in welchem Winkel er zu ihr gestanden hat. Alle möglichen
Faktoren spielen eine Rolle. Wir wissen weder, ob sie überhaupt mit dem Gewehr
niedergeschlagen wurde, noch, ob der Täter ein Mann war. Also seien Sie
vorsichtig, Joe.“
„Warum?“
„Wegen Ihrer Versessenheit darauf, den genauen
Tathergang zu rekonstruieren. Sie laufen nämlich Gefahr, Ihre Theorien mit
Fakten zu verwechseln und die Wirklichkeit als Spiel zu sehen. Das hier ist
keine Horror-Szene, sondern ein Mord an einem lebendigen Menschen.“
„Man wird doch wohl noch kreativ sein dürfen“, gibt
Joe zurück und starrt vor sich hin, die schmalen Lippen zusammengepresst und
das lange, spitze Kinn vorgeschoben, wie immer, wenn er schmollt.
„Kreativität ist eine schöne Sache“, erwidert
Scarpetta. „Denn sie gibt einem häufig Hinweise darauf, wo und wonach man suchen
soll. Allerdings dürfen wir dabei nicht vergessen, dass wir hier nicht das
Drehbuch zu einem Fernsehkrimi schreiben.“
32
Das kleine Gästehaus hinter einem Swimmingpool mit
spanischen Kacheln versteckt sich zwischen Obstbäumen und blühenden Büschen.
Eigentlich ist es nicht als Behandlungszimmer gedacht und auch nicht unbedingt
der geeignetste Ort dafür, doch die Lage ist idyllisch und strotzt von
Symbolen. Wenn es regnet, empfindet Dr. Marilyn Seif sich hier als ebenso
schöpferisch wie die warme, feuchte Erde.
Sie neigt dazu, das Wetter als Bestätigung dessen zu
deuten, was geschieht, wenn ein Patient über ihre Schwelle tritt. Unterdrückte
Gefühle, manche von ihnen übermächtig, werden in der Geborgenheit einer
therapeutischen Umgebung freigesetzt. Das Wetter rings um sie herum ist
wechselhaft, einzigartig und nur für sie bestimmt. Es strotzt von Andeutungen
und Hinweisen.
Willkommen in meinem Sturm. Und
nun lassen Sie uns über Ihren sprechen.
Diese Einleitung benutzt sie häufig in ihrer Praxis,
in ihrer Radiosendung und nun auch in ihrer neuen Fernsehshow. Menschliche
Gefühle sind Wetterfronten, die im Inneren toben, erklärt sie ihren Patienten
und den zahlreichen Zuschauern. Jede Gewitterfront wird durch etwas ausgelöst.
Alles hat eine Ursache. Und über das Wetter zu reden ist weder oberflächlich
noch banal.
„Ich sehe Ihren Gesichtsausdruck“, sagt sie und
beugt sich in dem Ledersessel ihrer gemütlichen Sitzgruppe vor. „Als der Regen
aufgehört hat, haben Sie wieder diesen Gesichtsausdruck bekommen.“
„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich keinen
Gesichtsausdruck habe.“
„Es ist interessant, dass Sie diesen
Gesichtsausdruck bekommen, wenn es zu regnen aufhört. Nicht wenn es anfängt
oder wenn es so richtig schüttet, sondern wenn plötzlich Schluss ist, so wie
gerade eben.“
„Ich habe keinen Gesichtsausdruck.“
„Als der Regen aufgehört hat, haben Sie diesen
Gesichtsausdruck bekommen“, wiederholt Dr. Seif. „Denselben haben Sie auch,
wenn unsere Stunde vorbei ist.“
„Das stimmt nicht.“
„Glauben Sie mir, es ist so.“
„Ich bezahle keine dreihundert Dollar pro Stunde, um
über Gewitter zu reden. Ich habe keinen Gesichtsausdruck.“
„Pete, ich sage Ihnen nur, was ich sehe.“
„Ich habe keinen Gesichtsausdruck“, beharrt Marino,
der Dr. Seif gegenüber in einem Fernsehsessel sitzt. „Das ist doch alles Mist.
Und warum sollte mich ein Gewitter interessieren? Ich habe im Leben schon viele
Gewitter erlebt. Schließlich bin ich nicht in der Wüste aufgewachsen.“
Sie mustert sein Gesicht, das auf eine raue
männliche Art recht attraktiv ist, und betrachtet seine verschleierten grauen
Augen hinter der Metallbrille. Sein kahler Schädel, der im weichen Lampenlicht
nackt und bleich schimmert, erinnert sie an den Po eines Neugeborenen. Seine
kugelrunde Glatze ist wie ein Hinterteil, das auf einen Klaps wartet.
„Ich glaube, wir haben ein Vertrauensproblem“, sagt
sie.
Er sitzt im Sessel und blickt sie finster an.
„Warum erklären Sie mir nicht, was Gewitter und
deren Ende für Sie bedeuten, Pete? Denn ich bin überzeugt, dass es so ist. Sie
haben diesen Gesichtsausdruck, während wir hier miteinander sprechen. Glauben
Sie mir. Sie haben ihn auch jetzt.“
Er berührt sein Gesicht, als wäre es eine Maske,
nicht ein Teil von ihm.
„Mein Gesicht ist ganz normal. Da ist nichts.
Überhaupt nichts.“
Er tippt sich an den kräftigen Kiefer und die breite
Stirn. „Wenn ich einen Gesichtsausdruck hätte, würde ich das merken. Ich habe
keinen.“
In den letzten Minuten haben sie
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