Defekt
dass Mrs. Simister
bewusstlos war, als der Täter ihr den Gewehrlauf in den Mund gesteckt und abgedrückt
hat. Allerdings ist das keine Schlussfolgerung, die auf der Hand lag.
Riesige klaffende Kopfwunden können nämlich Verletzungen
verdecken, die dem Opfer vor dieser letzten Verstümmelung zugefügt wurden.
Manchmal muss man als Pathologe auch plastische Chirurgie betreiben, und
Scarpetta hat in der Gerichtsmedizin ihr Bestes getan, um Mrs. Simisters
Schädel zu rekonstruieren. Sie hat Knochensplitter zusammengefügt, die Kopfhaut
vernäht und zu guter Letzt das Haar abrasiert. Dabei ist sie auf eine
Platzwunde am Hinterkopf und einen Schädelbruch gestoßen. An der
Aufprallstelle befindet sich ein subdurales Hämatom in einem Bereich des
Gehirns, der trotz des Schusses verhältnismäßig intakt geblieben ist.
Falls sich die Flecken auf dem Teppich unter Mrs.
Simisters Schlafzimmerfenster als ihr Blut erweisen, wurde sie vermutlich dort
niedergeschlagen, was auch den Schmutz und die bläulichen Fasern an ihren
Handflächen erklären würde. Offenbar ist sie nach einem Schlag mit einem
stumpfen Gegenstand auf den Hinterkopf gestürzt. Dann hat der Täter die nur
gut vierzig Kilo schwere Frau hochgehoben und aufs Bett gelegt.
„Ein abgesägtes Gewehr ließe sich doch problemlos in
einem Rucksack transportieren“, beharrt Joe.
Scarpetta richtet die Fernbedienung auf den Hummer
und öffnet die Zentralverriegelung. „Nicht notwendigerweise“, erwidert sie
erschöpft.
Joe ermüdet sie und geht ihr mit jedem Tag mehr auf
die Nerven.
„Selbst wenn man den Lauf um vierzig bis sechzig
Zentimeter und den Schaft um noch einmal achtzehn Zentimeter kürzt, hat man es
noch immer mit einer sechzig Zentimeter langen Waffe zu tun“, stellt sie fest.
„Mindestens. Vorausgesetzt, wir sprechen von einem Selbstlader.“
Sie denkt an die große schwarze Tasche des
Zitrus-Kontrolleurs.
„Eine Pumpgun wäre noch länger gewesen“, spricht sie
weiter. „Jedenfalls hätten beide Waffen nicht in einen Rucksack gepasst.
Höchstens in einen sehr großen.“
„Dann also eine Reisetasche.“
Scarpetta erinnert sich an den Kontrolleur und an
das lange Pflückgerät, das er auseinander genommen und in seiner schwarzen
Tasche verstaut hat. Obwohl sie schon öfter Zitrus-Kontrolleure bei der Arbeit
beobachtet hat, hat sie noch nie einen mit einem Pflückgerät gesehen.
Normalerweise untersuchen sie nur die Früchte, die sie mit der Hand erreichen
können.
„Ich wette, er hatte eine Reisetasche“, sagt Joe.
„Keine Ahnung.“ Es kostet sie Mühe, ihn nicht
anzuherrschen.
Während der gesamten Obduktion hat er ohne Punkt und
Komma geredet, abenteuerliche Vermutungen angestellt und ihr Vorträge gehalten,
bis sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Jeden seiner Handgriffe
und jeden Satz, den er sich auf dem Formular auf seinem Klemmbrett notierte,
musste er ausführlich kommentieren. Und er hielt es auch für nötig, das Gewicht
jedes Organs zu verkünden und aus dem halb verdauten Mageninhalt des Opfers zu
schlussfolgern, wann Mrs. Simister zuletzt Fleisch und Gemüse gegessen hatte.
Natürlich musste er auch dafür sorgen, dass Scarpetta das Knirschen der
Kalkablagerungen hörte, als er die teilweise verstopften Koronararterien der
Toten mit dem Skalpell aufschlitzte und anmerkte, dass sie auch an
Arteriosklerose gestorben sein könnte. Selten so gelacht!
Mrs. Simister hatte insgesamt keine sehr günstige
Zukunftsprognose. Sie litt an Herzschwäche. Ihre Lungen waren, offenbar durch
eine Lungenentzündung, geschädigt. Und außerdem war ihr Gehirn leicht
verkümmert, was heißt, dass sie vermutlich auch Alzheimer hatte.
Wenn man sich schon ermorden
lassen muss, meinte Joe, ist es doch besser, wenn man bereits
krank ist.
„Ich glaube, er hat sie mit dem Gewehrschaft auf den
Hinterkopf geschlagen“, sagt Joe jetzt. „Sie wissen schon, ungefähr so.“
Er rammt einen imaginären Gewehrkolben gegen einen
ebenso imaginären Schädel.
„Sie war nur knapp eins fünfzig groß“, malt er sein
Szenario weiter aus. „Also muss der Täter verhältnismäßig kräftig und größer
gewesen sein als sie. Sonst hätte er sie nicht mit dem Schaft eines Gewehrs,
das etwa drei bis dreieinhalb Kilo wiegt - vorausgesetzt, es war nicht abgesägt
-, auf den Kopf schlagen können.“
„Das sind doch alles nur Mutmaßungen“, erwidert
Scarpetta, während sie mit dem Wagen den Parkplatz verlässt. „Denn es hängt
viel davon
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