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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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bevorstehenden gewaltsamen und erniedrigenden
Tod vor Augen zu führen. Er hat ihr den Gewehrlauf in den Mund gesteckt und sie
zusehen lassen, wie er abdrückte. Er mag sie gekannt haben. Vielleicht war sie
auch eine Fremde. Möglicherweise hat er sie schon seit einer Weile beobachtet
und sie dann entführt. Laut der Massachusetts State Police wird in Neuengland
keine Frau vermisst, auf die ihre Beschreibung passt. Im ganzen Land gibt es
keine Vermisstenmeldung, die auf sie zutreffen könnte.
     
    Hinter dem Swimmingpool befindet sich ein
Wellenbrecher, der groß genug wäre, um eine zwanzig Meter lange Jacht zu vertäuen.
Allerdings besitzt Scarpetta keine Jacht und hatte auch noch nie das Bedürfnis,
sich ein wie auch immer geartetes Boot zuzulegen.
    Aber sie beobachtet die Boote, besonders nachts,
wenn die Lichter an Bug und Heck, lautlos bis auf das leise Tuckern der
Motoren, über den dunklen Kanal gleiten. Wenn in den Kabinen Licht brennt, kann
sie zuschauen, wie Menschen umhergehen, sich zuprosten, lachen, ernst sind oder
einfach nur dasitzen. Sie möchte weder mit ihnen tauschen noch so sein wie sie
und hat auch keine Lust auf ihre Gesellschaft.
    Scarpetta war nie wie diese Leute und wollte nie
etwas mit ihnen zu tun haben. In ihrer armen und einsamen Jugend haben die
anderen beschlossen, dass sie in ihren Kreisen nichts verloren hat. Und nun
liegt die Entscheidung bei ihr. Inzwischen hat sie Erfahrung und sieht als
Außenstehende anderen dabei zu, wie sie ihr banales, deprimierendes, leeres und
von Ängsten bestimmtes Leben führen. Immer hat sie befürchtet, dass ihrer
Nichte etwas Tragisches zustoßen könnte, denn es liegt ihr nun einmal im Blut,
im Zusammenhang mit Menschen, die sie liebt, immer gleich vom Schlimmsten
auszugehen. Aber bei Lucy war dieses Gefühl stets besonders stark. Tagtäglich
macht Scarpetta sich Sorgen, dass Lucy eines gewaltsamen Todes sterben könnte.
Doch an eine Krankheit hat sie nie auch nur im Traum gedacht. Daran, dass ihr
Körper sich gegen sie wenden könnte, weil die Biologie keine Unterschiede
macht.
    „Ich hatte plötzlich Symptome, die ich nicht
verstand“, sagt Lucy in die Dunkelheit hinein. Sie sitzen auf Teakstühlen zwischen
zwei Holzpfeilern.
    Auf einem Tisch stehen Getränke und ein Teller mit
Käse und Kräckern. Das Essen haben sie noch nicht angerührt, sind aber schon
beim zweiten Drink.
    „Manchmal finde ich es schade, dass ich nicht
rauche“, meint Lucy und greift nach ihrem Tequilaglas.
    „Du sagst aber komische Sachen.“
    „Damals, als du jahrelang gequalmt hast, fandest du
es gar nicht komisch. Du vermisst es immer noch.“
    „Was ich vermisse, spielt keine Rolle.“
    „Dieser Spruch ist typisch für dich, so als würden
dich normale menschliche Gefühle nichts angehen“, erwidert Lucy und blickt
aufs Wasser hinaus. „Natürlich spielt es eine Rolle. Alles, was du willst,
spielt eine Rolle. Insbesondere dann, wenn du es nicht kriegen kannst.“
    „Willst du sie?“, fragt Scarpetta.
    „Wen meinst du?“
    „Die, mit der du zuletzt zusammen warst“, entgegnet
Scarpetta. „Deine jüngste Eroberung in Provincetown.“
    „Ich betrachte sie nicht als Eroberungen, sondern
als eine Art Kurzurlaub. So, als wenn man einen Joint raucht. Vermutlich ist
das Traurigste daran, dass es mir nichts bedeutet. Allerdings könnte diesmal
mehr dahinterstecken. Ich habe das seltsame Gefühl, dass ich da in etwas
hineingeschlittert bin. Jedenfalls habe ich mich blind und leichtsinnig
verhalten.“
    Lucy erzählt Scarpetta von Stevie und ihren
Tätowierungen. Den roten Handabdrücken. Obwohl es ihr schwerfällt, darüber zu
reden, bemüht sie sich um einen sachlichen Ton, so als ginge es um eine dritte
Person, einen Fall.
    Schweigend greift Scarpetta nach ihrem Glas und
lässt Lucys Worte auf sich wirken.
    „Vielleicht ist es ja nicht weiter wichtig“, fährt
Lucy fort. „Ein Zufall. Schließlich stehen viele Leute auf seltsamen Körperschmuck
oder malen sich mit der Airbrush-Pistole und Acryl- oder Latexfarbe komische
Symbole auf die Haut.“
    „Ich habe allmählich genug von Zufällen. In letzter
Zeit sind es nämlich ein bisschen zu viele“, gibt Scarpetta zurück.
    „Der Tequila ist ziemlich gut. Jetzt hätte ich
nichts gegen einen Joint einzuwenden.“
    „Willst du mich schocken?“
    „Gras ist gar nicht so schädlich, wie es immer
heißt.“
    „Seit wann bist du Ärztin?“
    „Wirklich, es stimmt.“
    „Warum hasst du dich selbst so sehr,

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