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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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sehr zu
schaffen, was er sich angesichts seiner langjährigen Erfahrung nur schwer
erklären kann. Da er sich vor lauter Zerstreutheit die Seriennummern nicht
notiert hat, hat er fast eine halbe Stunde gebraucht, um die fraglichen Fotos -
Nummer 62 und 74 - zu finden. Die gründliche Vorgehensweise von Detective Thrush
und der Massachusetts State Police beeindruckt ihn. Bei einem Mordfall,
insbesondere bei einem wie diesem, darf man nichts unversucht lassen.
    Gut Ding will Weile haben - dieser Wahlspruch ist bei einem Tötungsdelikt fehl am
Platz. Der Tatort verändert sich oder wird manipuliert, sodass man keine Spuren
mehr sicherstellen kann. Die Leiche zerfällt, und nach der Autopsie sieht sie
ohnehin nicht mehr aus wie zuvor, was auch nicht rückgängig zu machen ist.
Deswegen sind die Polizeifotografen sofort in Aktion getreten und haben wie
besessen geknipst, weshalb Benton sich nun mit einer wahren Flut von Fotos und
Videoaufnahmen beschäftigen muss. Das tut er jetzt, seit er von seinem Besuch
bei Basil Jenrette zurückgekehrt ist. Eigentlich hat Benton geglaubt, dass ihn
nach über zwanzig Jahren beim FBI nichts mehr erschüttern kann. Schließlich hat
er als forensischer Psychologe Einblicke in die tiefsten menschlichen Abgründe
gewonnen. Aber so etwas hat er wirklich noch nie gesehen.
    Die Fotos 62 und 74 sind nicht so drastisch wie die
anderen, da sie den zerschmetterten Kopf der noch nicht identifizierten Toten
nicht zeigen und das gesichtslose, blutige Grauen nicht abbilden. Die Leiche
erinnert ihn an einen Löffel, eine leere Hülle mit dem Hals als Stiel. Ihr schwarzes,
fransig abgeschnittenes Haar ist mit Gewebefetzen und getrocknetem Blut
verkrustet. Die Fotos 62 und 74 sind Nahaufnahmen ihres Körpers vom Hals bis zu
den Knien und lösen in Benton ein Gefühl aus, das er nicht in Worte fassen
kann. Es ist, als würde ein Grauen wieder in ihm wachgerufen, das er bereits
vergessen zu haben glaubte. Die Bilder wollen ihm etwas sagen, das er schon
weiß. Aber er kommt einfach nicht darauf. Was ist es nur?
    Foto 62 zeigt den Torso rücklings auf dem
Autopsietisch. Auf Bild 74 liegt er auf dem Bauch. Benton klickt zwischen den
beiden Aufnahmen hin und her, mustert den nackten Torso und überlegt, was die
hellroten Handabdrücke und die entzündete aufgeschürfte Stelle zwischen den
Schulterblättern zu bedeuten haben. Es ist eine achtzehn mal vierundzwanzig
Zentimeter große Wunde, in der laut Autopsiebericht „Holzsplitter und Erde“
stecken.
    Benton hat auch schon über die Möglichkeit
nachgedacht, dass die roten Handabdrücke bereits vor dem Tod der Frau angebracht
worden sein könnten und deshalb nichts mit ihrer Ermordung zu tun haben.
Vielleicht hat sie sich aus irgendeinem Grund bemalen lassen, ehe sie ihren
Mörder traf. Doch obwohl er das in Erwägung ziehen muss, glaubt er es
eigentlich nicht. Wahrscheinlich war es der Täter selbst, der ihren Körper in
ein Kunstwerk verwandelt hat, und zwar auf eine Weise, die das Opfer
herabwürdigt und ihm sexuelle Gewalt antut. Die Handabdrücke, die ihre Brüste
umfassen und ihr die Beine auseinander zwingen, hat er vermutlich aufgemalt,
als er sie noch als Geisel gehalten hat. Vielleicht war sie dabei ja auch
bewusstlos oder bereits tot. Das weiß Benton nicht, denn es ist nicht mehr
festzustellen. Er wünscht, Scarpetta wäre für diesen Fall zuständig, sodass sie
den Tatort untersucht und die Autopsie durchgeführt hätte. Außerdem vermisst er
sie. Aber wie immer ist etwas dazwischengekommen.
    Er sichtet weitere Fotos und Berichte. Das Alter des
Opfers wird auf Mitte dreißig bis Anfang vierzig geschätzt, und die Obduktion
hat bestätigt, was Dr. Lonsdale schon in der Leichenhalle gesagt hat. Sie war
noch nicht lange tot, als ihre Leiche auf einem Weg, der durch Waiden Woods
führt, unweit vom Waiden Pond und des wohlhabenden Städtchens Lincoln gefunden
wurde. Die durch Abstrich entnommenen Proben ergaben keine Spermaspuren, und
Benton vermutet, dass der Täter, der sie getötet und ihre Leiche im Wald
deponiert hat, von sadistischen Phantasien getrieben wird und sexuelle
Befriedigung findet, indem er das Opfer zum Objekt macht.
    Ganz gleich, wer diese Frau auch gewesen sein mag,
dem Mörder hat sie nichts bedeutet. Für ihn war sie kein Mensch, nur ein
Symbol, ein Gegenstand, mit dem er nach Belieben verfahren konnte. Er hatte
Freude daran, sie zu demütigen, ihr Angst zu machen, sie zu bestrafen, ihr Leid
zuzufügen und ihr ihren unmittelbar

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