Deichgrab
deshalb ziemlich einsam hier. Onkel Hannes spricht nach wie vor sehr wenig mit mir. Aber letzte Woche ist etwas ganz Tolles passiert. Stell dir vor, Großvater, Onkel Hannes hat mir ein Fahrrad geschenkt. Und das, obwohl ich überhaupt nicht Geburtstag hatte oder weil Weihnachten war. Einfach so! Es ist zwar ein gebrauchtes Fahrrad, aber es ist noch gut in Schuss. Sogar eine Gangschaltung hat es. Onkel Hannes hat gesagt, das Fahrrad sei dafür, dass ich schneller zur Schule und zurückfahren könne, aber in Wirklichkeit glaube ich, wollte er mir eine Freude machen. Weil ich doch keine Freunde hier habe oder so.
Nun kann ich also durch die Gegend fahren und die Umgebung erkunden. Wenn ich meine Hausaufgaben erledigt und die Aufgaben im Haus verrichtet habe, nehme ich mein neues Fahrrad und fahre einfach los. Es ist sehr schön hier. Ganz in der Nähe gibt es eine Wehle. Unser Lehrer hat erklärt, dass die Wehlen durch immer wieder einbrechende Wassermassen bei früheren Deichbrüchen ausgespült worden sind. Die Menschen hatten früher meist nicht die Möglichkeit, die tiefen Löcher aufzufüllen, und deswegen haben sich daraus mit der Zeit kleine, tiefe Seen gebildet. In unserer Wehle gibt es sogar Stichlinge und Kaulquappen. Ich habe welche für den Sachkundeunterricht gefangen und mit in die Schule genommen. Da haben wir ein kleines Aquarium und können jeden Tag die Frösche wachsen sehen.
Wenn ich nicht zur Wehle radle, fahre ich oft durch die Köge. Es ist momentan alles schon grün. Nur die Bauern hier sind manchmal nicht ganz so nett. Neulich hat mich einer von einer Fenne vertrieben. Richtig böse geschimpft hat er. Ich hätte da nichts zu suchen. Dabei wollte ich nur nach Kiebitznestern suchen. Die brüten hier nämlich auf den Äckern. Und wenn man ganz scharfe Augen hat und fleißig sucht, kann man die Nester finden.
So, lieber Großvater, nun will ich aber noch etwas herumfahren, denn es hat aufgehört zu regnen. Ich wünsche dir alles Gute und schreibe schnell wieder. Versprochen.
Viele liebe Grüße,
Dein Tom
11
Wie so oft schon hatte Frank sich früh am Morgen ins Schlafzimmer geschlichen und neben Meike ins Bett gelegt. Geschlafen hatte er nicht mehr, dazu war er viel zu aufgedreht gewesen. Außerdem machte ihm die Kreditabsage zu schaffen.
Jetzt saß er schweigend am Küchentisch und starrte in seine Kaffeetasse. Meike hatte den Frühstückstisch gedeckt und saß ihm mit vorwurfsvollem Blick gegenüber auf der Küchenbank.
»So oft hast du es mir versprochen, so oft!«
Ihre Stimme klang zittrig, sie hatte Mühe ihre Tränen zu unterdrücken. Frank blickte sie an. Ihr schmales Gesicht war blass, ihre Augen leicht gerötet. Es tat ihm leid, aber er konnte einfach nicht anders. Wie sollte er ihr erklären, wie es war, wenn es einem förmlich in den Fingern juckte? Dem großen Gewinn so nah. Die Anspannung, das Herzrasen, der Adrenalinschub. Er brauchte es einfach, war süchtig danach. Das konnte sie nicht verstehen.
Broder betrat die Küche.
»Schönen guten Morgen zusammen«, sagte er laut, als er an den Tisch trat. Meike sprang sofort auf und machte sich an der Spülmaschine zu schaffen. Dass die Stimmung miserabel war, konnte Broder spüren. Sah ja ein Blinder mit ’nem Krückstock, bei der Miene, mit der Frank am Tisch saß.
Broder versuchte es zunächst auf die freundliche Art. Meike litt schon genug, da wollte er die Stimmung ja nicht noch schlechter machen, als sie eh schon war.
»Und was liegt heute so an?«, fragte er deshalb.
Frank reagierte gar nicht auf seine Frage. Er rührte schweigend in seinem Kaffeebecher. Meike versuchte, mit belanglosem Geplauder die Situation zu retten.
»Ach, heute müsste der Tierarzt wegen der Impfung kommen und Rosalie soll ja auch heute kalben.«
Erwartungsvoll blickte sie Frank an. Der reagierte immer noch nicht.
»So, so.« Broder nickte.
»Und was hast du heute vor?« Er blickte Frank an.
Der zuckte jedoch nur mit den Schultern.
»Redest du vielleicht auch noch mal mit deinem Vater?«
Broders Stimme wurde lauter. Diese verstockte Art machte ihn rasend. Frank schaute auf.
»Was willst du eigentlich von mir? Du hast doch sowieso nichts mehr zu sagen hier!«
Sein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Broder spürte, wie sein Herz schneller pochte. Sein Gesicht wurde puterrot, dann schrie er:
»Was du mit dem ganzen Geld gemacht hast, will ich wissen! Das Betriebskonto ist weit überzogen. Seit vier Monaten platzen
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