Deichgrab
hatte es Lorentz entreißen müssen. Er hatte sich gar nicht mehr beruhigen können. Schließlich hatte Dr. Roloff ihm eine Spritze gegeben und Frieda nach Hause geschickt.
Lorentz musste das Foto heimlich ins Album gelegt haben. Genauso heimlich, wie die anderen Sachen, die er hinter der Schrankwand im Wohnzimmer versteckt hatte. Als ihre Ersparnisse aufgebraucht gewesen waren und sie das Haus verkaufen musste, hatte sie die kleine Mappe mit Briefen, Zeitungsausschnitten und Fotos gefunden. Der Boden war ihr unter den Füßen weggebrochen. Sie hatte nicht gewusst, was sie glauben sollte.
Sechs Wochen lang hatte sie sich in ihrer neuen Wohnung und ihrem Selbstmitleid eingeigelt. Sogar ans Sterben hatte sie gedacht. Doch dann war die Liebe zu Lorentz wieder stärker gewesen. Wie sie immer stärker gewesen war. Immer hatte diese Liebe Friedas Tun und Handeln gelenkt. Sie blind für die Realität sein lassen.
Frieda klingelte. Hanna öffnete und strahlte sie an.
»Ich habe dein Lieblingsessen gekocht. Birnen, Bohnen und Speck. Das wird dir schmecken!«
Fritz saß bereits auf der Eckbank in der Küche.
»Na, Frieda, dann lassen wir uns heute mal von meiner Frau verwöhnen.«
Hanna servierte. Es duftete würzig. Eigentlich hatte Frieda keinen Appetit, aber als sie den ersten Löffel hinuntergeschluckt hatte, bemerkte sie, wie hungrig sie war. Nach dem ersten Teller nahm sie noch einen Nachschlag. Hanna freute sich, dass es ihr so gut schmeckte.
Fritz erzählte Geschichten aus der Gaststube. Frieda war froh, dass er sich heute nicht nach Lorentz erkundigte. Nachdem sie sich über seine lustigen Geschichten amüsiert hatten, fiel Fritz Toms Besuch in der Gaststube ein.
»Und stellt euch vor, wer sich momentan im Dorf herum treibt. Hannes Neffe. War heute mit dem Horst zum Mittagessen. Wie ich vom Volker gehört habe, schnüffelt der wohl hier rum. War gestern bei Max in der Kneipe und soll den Haie ausgehorcht haben. Na, das fehlt uns gerade noch.«
Frieda verschluckte sich an einer Bohne und hustete heftig. Sie bekam keine Luft, die Bohne saß quer in ihrer Luftröhre. Hanna reichte ihr schnell ein Glas Wasser, aber Frieda konnte vor lauter Husten keinen Schluck trinken. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Panikartig schnappte sie nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen, bis Fritz ihr kräftig auf den Rücken schlug, die Bohne sich löste und sie wieder Luft holen konnte. Hanna brachte schnell einen Schnaps, den sie hastig hinunterkippte. Heiß lief die Flüssigkeit durch ihren Hals, bahnte sich ihren Weg in den Magen. Hanna schenkte gleich noch einmal nach.
»Auf einem Bein steht’s sich schlecht«, scherzte Fritz.
Frieda nickte, prostete Fritz mit dem zweiten Glas zu und sagte:
»Hast recht, Schnüffler können wir hier nicht gebrauchen!«
Als Tom aufbrach, war die Flasche Korn leer und er hatte Haie überreden können, ihn am nächsten Tag von der Arbeit abzuholen.
Die Nacht war klar. Tom konnte den ›kleinen Wagen‹ am Himmel erkennen. Der Fußmarsch tat ihm gut. Die frische Luft und die Bewegung vertrieben den Alkohol. Als er zu Hause ankam, war er beinahe wieder nüchtern.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Merkwürdig, er war sich ziemlich sicher, dass er den Schlüssel zweimal herumgedreht hatte, als er gegangen war. Beim genaueren Hinsehen fielen ihm die Furchen in der Tür und das verbogene Schloss auf. Sein Puls fing augenblicklich zu rasen an. Vorsichtig stieß er die Tür leicht auf.
Er machte kein Licht, sondern tastete sich an der Wand entlang durch den dunklen Flur. In der Küche konnte er den Strahl einer Taschenlampe erkennen. Ein kleiner Leuchtkegel wanderte über die Schränke. Dann hörte er, wie hastig die Schränke durchwühlt und Schubladen herausgerissen wurden. Besteck fiel zu Boden, Geschirr zerbrach. Leise schlich Tom näher zur Küchentür. Dabei stieß er mit seinem Fuß gegen etwas Hartes. Es gab einen dumpfen Ton. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schwitzte.
Ein leises Fluchen war zu hören. Mit zitternder Hand tastete Tom nach dem Lichtschalter. Als er den Kunststoff des Schalters unter seinen Fingern spürte, blendete ihn plötzlich das Licht der Taschenlampe. Seine Reaktionen waren durch den Alkohol eingeschränkt. Er sah einen großen, dunklen Gegenstand auf sich zukommen, konnte sich aber nicht bewegen. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn, lähmte seinen Körper. Dann wurde es dunkel.
Als Tom aufwachte, lag er auf den Steinfliesen im Flur.
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