Deichgrab
Sturmflut. Als bei Husum die Deiche brachen, mussten wir die Suche erst einmal beenden. Wir hatten bis dahin ohnehin keine Hinweise auf Brittas Verbleib. Nicht die kleinste Spur. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Nicht mal ihr Fahrrad haben wir gefunden.«
Die Bedienung brachte das Essen. Tom war eigentlich gar nicht mehr hungrig. Ihn interessierte vielmehr, was damals genau vorgefallen war.
»Wie sind die Leute dann auf Hannes gekommen? Ich meine, wie konnte man einfach behaupten, dass er Britta umgebracht hatte?«
Haie hatte sich gerade eine große Gabel voll Bratkartoffeln in den Mund geschoben. Er kaute langsam und schluckte.
»Anfangs hat auch keiner behauptet, dass Hannes Britta umgebracht hatte. Zuerst haben sie es den Zigeunern angehängt. Kurz vorher waren nämlich etliche Wagen in der Nähe vom Bottschlottersee gesehen worden. Die Helene hatte angeblich gehört, dass das Zigeuner wären. Als Britta verschwand, waren auch plötzlich die Wagen weg. Das kam uns natürlich merkwürdig vor. Plötzlich aber hatte Broder die Vermutung geäußert, dass Hannes vielleicht etwas mit Brittas Verschwinden zu tun haben könnte. Schließlich hatte er ihn ja angeblich auf seinem Hof dabei beobachtet, wie er sich an Britta herangemacht haben soll. Und Helene hatte tags zuvor Hannes dabei gesehen, wie er Britta ein Eis ausgegeben und sich länger mit ihr unterhalten hatte. Tja, und dann ergab ein Wort das andere und plötzlich glaubte jeder, Hannes sei der Mörder von Britta.«
Gedankenverloren stocherte Haie in seinen Bratkartoffeln. Er schien nachzudenken. »Komisch«, murmelte er vor sich hin.
»Was ist?«
»Na ja, ich meine, auf Hannes sind die Leute zunächst nur wegen der Aussage von Broder gekommen. Und während der Gerichtsverhandlung, als man das erste Mal kurz davor war, Hannes freizusprechen, war es ausgerechnet Klaus, der Brittas Fahrrad beim Angeln in der Soholmer Au gefunden hatte.«
»Wer ist Klaus?«
»Broders bester Freund.«
14
Es war ein guter Tag. Als Frieda das Pflegeheim betrat, traf sie Dr. Roloff.
»Frau Mommsen«, begrüßte er sie. »Heute sieht es besser aus. Wir haben die Medikamente neu eingestellt. Sie können einen Spaziergang mit ihm machen.«
Frieda freute sich. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Die schlechte Laune, die sie schon seit dem Aufstehen hatte, verflog. Plötzlich verspürte sie so etwas wie Hoffnung. Als sie Lorentz’ Zimmer betrat, saß er bereits angezogen in seinem Rollstuhl. Er lächelte.
Sie schob den Rollstuhl langsam über den kleinen Kiesweg und plapperte ohne Unterbrechung. Sie erzählte von Hanna und Fritz, wie nett sie zu ihr waren, dann von der hinterhältigen Helene. Als sie Lorentz erzählte, wie sie Helene heute heimlich einen Vogel gezeigt hatte, lachte sie so laut, dass einige Spaziergänger, die vor ihnen gingen, sich nach ihr umdrehten. Lorentz saß schweigend in seinem Rollstuhl und aß eine Praline nach der anderen. Frieda wusste nicht, wie viel er von dem, was sie erzählte, überhaupt aufnehmen konnte. Ohne selbst ein Wort zu sagen, ließ er sich von ihr durch das Wohngebiet schieben. Es schien, als habe er vergessen wie man Wörter formte, Sätze bildete. Rein körperlich schien es ihm heute prächtig zu gehen und das allein machte Frieda glücklich. Sie bemerkte gar nicht, dass er auf ihre Fragen keine Antworten gab. Heute wollte sie nur froh sein.
Zum Kaffee brachte Frieda Lorentz in den Gemeinschaftsraum. Jeder sollte sie zusammen sehen. Etliche Besucher waren im Raum, nahmen mit ihren Verwandten und Bekannten an der Kaffeetafel Platz. Als Frieda Lorentz seine Kaffeetasse mit dem Schnabelaufsatz reichte, bemerkte sie, dass er sich umgedreht hatte und zur Tür hinüberstarrte. Sie folgte seinem Blick. In der Tür stand Marlies Johannsen und blickte sich suchend im Raum um. Wahrscheinlich suchte sie ihre Schwester, die vor wenigen Tagen ebenfalls ins Pflegeheim gezogen war.
Frieda blickte auf Lorentz. Er saß wie versteinert am Tisch und verfolgte jede ihrer Bewegungen. So aufmerksam hatte Frieda ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sie verspürte einen Stich in ihrer Brust. Plötzlich beugte er sich zu ihr hinüber und fragte: »Wo ist denn Britta?«
Tom hatte Haie an der Schule abgesetzt und war anschließend nach Hause gefahren.
Der Nachmittag war interessant gewesen. Tom hatte eine Menge über die Leute aus dem Dorf und Brittas Verschwinden erfahren. Allerdings waren viele neue Fragen aufgetaucht, die selbst Haie
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