Deichgrab
neben ihr und ließ sie einsteigen.
»Tut mir leid, aber ich musste noch schnell ein Rezept bei Dr. Seidel abholen«, entschuldigte er seine Verspätung.
Aus dem Radio tönte Schlagermusik, Welle Nord war eingestellt. Fritz gab Gas, kaum dass sie die Tür zugemacht hatte, und fuhr Richtung Hafen.
Die See war ungewöhnlich ruhig, der Himmel noch immer bedeckt. Zum Glück regnete es nicht. Zwei Stunden fuhren sie hinaus, an die in der Seekarte gekennzeichnete Stelle hinter Amrum auf dem offenen Meer. Frieda blickte auf das Wasser. Die Sicht war trotz der dicken Wolken klar, man konnte weit über das Meer blicken.
Der Kapitän verlangsamte die Fahrt und stellte die Motoren ab. Das Boot begann, unter den leichten Wellen unregelmäßig auf und ab zu schaukeln. Frieda spürte, wie das Frühstücksei und das Toastbrot in ihrem Magen aufwärts streben wollten. Sie schluckte. Nur nicht dran denken, tief atmen. Der Kapitän hatte sich in die Mitte der kleinen Trauergesellschaft gestellt, sprach ein paar persönliche Worte. Frieda nahm das gar nicht wirklich wahr, zu sehr konzentrierte sie sich darauf, ihre Übelkeit zu unterdrücken.
Während die messingfarbene Urne an einem dünnen Tau zu Wasser gelassen wurde, sang Edelgart Schöning ein Solo. Sie war als Vertreterin des Kirchenchores mitgefahren, mehr Sänger hätten auf dem kleinen Boot kaum Platz gefunden. Die anwesenden Trauergäste warfen nacheinander eine rote Rose über Bord. Als Frieda an die Reling trat, war von der Urne bereits nichts mehr zu sehen. Nur die Blumen schwammen auf der glatten Oberfläche des Meeres. Frieda war seltsam gerührt und ihr kamen die Tränen. Diese Seebestattung konfrontierte sie mit einer Feierlichkeit des Todes, die sie bisher nicht gekannt hatte. Alles schien so ruhig, erlösend und festlich. Als wäre Heinz nun seiner wahren Bestimmung zugeführt worden.
Sie stellte sich anschließend etwas abseits von den anderen Trauergästen. Der Kapitän startete die Motoren, zog mit dem Boot drei enge Kreise um die Stelle, an der die Urne versenkt worden war. Das Boot begann erneut zu schaukeln. Die Sonne brach für einen kurzen Augenblick durch die Wolken und warf einige Strahlen auf die Wasseroberfläche. Die Trauergäste waren ergriffen. Frieda beugte sich über die Reling und erbrach sich.
Tom war kurz vor Beginn der Mittagspause beim Nordfriesischen Tageblatt in Husum.
»Telefonisch können wir Ihnen keine Auskünfte erteilen«, hatte man ihm gesagt, als er am Morgen bei der Zeitung angerufen hatte. Deshalb war ihm nichts anderes übrig geblieben, als persönlich nach Husum zu fahren.
Am Informationsschalter saß ein älterer Mann mit Brille. Tom trug ihm sein Anliegen vor.
»Da gehen Sie am besten in den vierten Stock zu Frau Beckmann. Die kann Ihnen sicherlich weiterhelfen.«
Das Gebäude des Zeitungsverlages war alt. In den Gängen roch es ähnlich wie in alten Mietshäusern, eine Mischung aus Linoleum, Bohnerwachs und nassem Hund. In den vierten Stock fuhr ein Paternoster. Diese Art von Aufzug war Tom schon immer unheimlich gewesen. Jedes Mal, wenn er auf solch einen Aufzug traf, stellte sich ihm die Frage, wann der richtige Zeitpunkt zum Ein- oder Aussteigen gekommen war. Und dann die gruselige Vorstellung, was wohl passierte, wenn man den Ausstieg verpasste und in den tiefen Keller fahren musste.
Er wartete, bis die nächste Kabine vollständig im Schacht erschienen war und sprang hinein. Eine Art Triumphgefühl machte sich in ihm breit, welches aber sofort wieder von dem Gedanken an den bevorstehenden Ausstieg vertrieben wurde. Mit angespannter Körperhaltung wartete er, bis eine große weiße Vier ihm anzeigte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Fast zu spät machte er den Schritt hinaus aus der Kabine, sodass es ihm vorkam, als würde er aus mindestens einem Meter Höhe auf den Flur hinunter springen. Als er sich jedoch umdrehte, stellte er fest, dass er sich getäuscht hatte. Die Kabine war noch nicht mal zu einem Viertel im Schacht nach oben verschwunden.
Toms Schuhe verursachten bei jedem Schritt ein leises Klicken. Das Linoleum war alt und brüchig, schwarze Streifen von abgeriebenen Schuhsohlen zeichneten ein kurioses Muster. Er klopfte an der Zimmernummer 415. Hinter dem Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung in ihr Büro.
»Mein Name ist Tom Meissner«, sagte er, während er ihr zu Begrüßung seine Hand hinhielt.
»Ich bin Brigitte Beckmann. Wie kann ich
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