Deichgrab
Hand. Er stand auf und streckte sich.
»So«, sagte Haie nur einen kurzen Moment später, »ich glaube, das war’s.«
Er hatte drei Seiten beschrieben, die er der Reihe nach ordnete und an Marlene reichte.
»Dann mal viel Erfolg!«
Er verließ die Küche. Sie vertiefte sich in Haies Notizen. Nach dem ersten Durchblättern nahm sie einen Kugelschreiber und schrieb zu einigen Punkten Bemerkungen an den Rand. Tom stand an der Spüle und betrachtete sie. Bilder der letzten Nacht tauchten in seiner Erinnerung auf und ein wohliges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, das sich verstärkte und schließlich in tausend kleine Schmetterlinge zu verwandeln schien. Es fühlte sich gut an.
Sie griff nach Toms Notizen. Er hatte fünf Seiten beschrieben. Seine Schrift bereitete ihr einige Schwierigkeiten, aber schon beim zweiten Durchlesen hatte sie sich an die verschnörkelten, kleinen Buchstaben gewöhnt und strich die Punkte, die sie bereits in Haies Notizen ausfindig gemacht hatte, durch. Nach einer Weile blickte sie auf.
»So, wollen wir?«
Sie riefen Haie, der nur einen kurzen Augenblick später in der Küchentür erschien. Zusammen setzten sie sich an den Tisch und Marlene stellte Fragen zu den einzelnen Punkten, ließ sich die Beziehungen der Personen untereinander erklären und machte sich Stück für Stück ein Bild von der ganzen Sache. Dabei trennte sie die Punkte nach den Geschehnissen in der Vergangenheit und denen, die erst kürzlich vorgefallen waren. Nach ungefähr zwei Stunden lehnte sie sich erschöpft zurück.
»Puh, die ganze Sache scheint verzwickter, als sie auf den ersten Blick erscheint.«
Tom holte aus dem Kühlschrank eine Wasserflasche. Fragend blickte er sie an und als sie nickte, holte er aus dem Küchenschrank ein frisches Glas und stellte es vor ihr auf den Tisch.
»Du auch?«, fragte er Haie, aber der schüttelte den Kopf.
»Also«, begann Marlene, »ich versuche mal, die einzelnen Punkte zusammenzufassen. 1962 verschwindet ein kleines Mädchen mit dem Namen Britta Johannsen. Dein Onkel ist zu diesem Zeitpunkt beim Deichbauamt beschäftigt und wahrscheinlich noch mit Broder Petersen gut befreundet. Eine Leiche wird nie gefunden, nur das Fahrrad der Kleinen, die auf dem Weg zu Broder Petersen war, um mit dem Pferd seiner verstorbenen Frau auszureiten.«
Marlene blickte die beiden Männer an. Sie nickten zustimmend.
»Dein Onkel wird daraufhin verdächtigt, Britta umgebracht zu haben. Dieser Verdacht wird von Broder Petersen begründet und später von Ihrer Frau in der Gerichtsverhandlung bestätigt.«
Haie blickte ihr fest in die Augen.
»Stimmt.«
»Also gut. Hannes wird jedoch nicht verurteilt, weil es erstens: keine Leiche gibt und zweitens: Broder seine Aussage zurückzieht. Das ganze Dorf ist jedoch der Meinung, Hannes habe Britta umgebracht. Er verliert wahrscheinlich seinen Job und noch Jahre später bekommst du die Auswirkungen dieser Anschuldigungen zu spüren.«
Tom nickte.
»Broder Petersen zahlt Hannes monatlich einen Geldbetrag auf ein Sparkonto, der regelmäßig abgehoben wird, weil dein Onkel wahrscheinlich, da er keinen Job mehr hat, seinen Lebensunterhalt davon bestreitet. Zusätzlich leiht Broder Petersen auch Volker und Marlies Johannsen Geld. Der Grund dafür ist ungewiss.«
Sie schwieg einen Moment.
»Ihre Frau hatte ein Verhältnis und bricht die daraus resultierende Schwangerschaft heimlich ab. Irgendjemand weiß aber von diesem Abbruch und erpresst Ihre Frau. Wenn sie die Falschaussage gegen Hannes nicht macht, sollen Sie von dem Verhältnis und der Abtreibung erfahren.«
Haie senkte seinen Blick, aber das bemerkte nur Tom, denn Marlene blätterte in den Aufzeichnungen.
»Broder hat behauptet, die Zahlungen an Hannes wären Raten für Geld, welches er von ihm geliehen hat. Du fragst dich aber, woher dein Onkel so viel Geld gehabt hat und warum er es ausgerechnet Broder geliehen haben soll. Wahrscheinlich ist alles auch ganz anders, als es auf den ersten Blick erscheint.«
Sie machte eine Pause und überlegte.
»Vielleicht ist Britta gar nicht tot.«
Haie und Tom schauten sie überrascht an.
»Vielleicht war es ganz anders. Nehmen wir mal an, Broder hatte ein Verhältnis mit Marlies Johannsen. Nur mal angenommen. Marlies wurde schwanger und Britta wurde geboren. Broder wusste das natürlich. Das würde auch erklären, warum er die Kleine gerne auf dem Hof hatte, schließlich war sie seine Tochter. Als Broders Frau starb, sah Marlies
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