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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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»Hast du Lust, es zu sehen?«
    »Nein danke«, erwiderte ich. »Schalte ihn nur aus.«
    Wie allen Kindern tat es ihm weh, genau diesen kleinen Handgriff durchzuführen, aber er schaffte es. Dann kam er zurück, setzte sich wieder auf die Armlehne und dachte nach. Ich sah ihn an. Schließlich fragte ich: »Woran denkst du?«
    Er wurde rot. »Nichts.«
    »Gar nichts?«
    Nach einer Pause sagte er. »Ich habe gedacht, dass du viel stärker bist als mein Papa, dass er nie mit denen allen fertig geworden wäre …«
    Wenche Andresen trat ins Zimmer und er verstummte. Sie trug ein Tablett mit Kakao und belegten Broten, Kakao in gelben Tassen und Brote auf einem großen Zinnteller, mit Ei und Schafswurst, Tomate und Gurke, Schinken und roter Beete, Sardinen in Tomatensauce und Erdbeermarmelade. Es sah aus wie eine Einladung zum Frühstück, aber vielleicht erwartete sie noch weitere Gäste.
    Wir aßen, während Roar erzählte, wie das Ganze angefangen hatte. Sie hatten ihm direkt vor dem Haus aufgelauert, drei Stück und Joker als Drahtzieher im Hintergrund. Sie hatten ihm die Arme auf den Rücken gebunden, ihm das Taschentuch in den Mund gestopft und ihn weggetragen. Er hatte versucht, um sich zu treten, doch da hatten sie ihm auf den Mund gehauen und gesagt, sie würden ihm die Beine brechen, wenn er nicht still hielte. Und da hatte er aufgehört zu treten.
    Oben bei der Hütte hatten sie ihn zunächst an einen Baum gebunden, waren um ihn herumgegangen und hatten ihm kleine Tritte und Schläge versetzt. Er zog die Hosenbeine hoch und zeigte: »Hier, guckt mal!« Seine Beine waren von oben bis unten voll blauer Flecken, und seine Mutter stöhnte auf. Ich kaute.
    Anschließend hatten sie ihm erzählt, was sie mit seiner Mutter machen würden.
    Wenche Andresen wurde blass. »Was haben sie gesagt?«
    Er wandte den Blick ab, ebenso blass.
    Sie wurde rot. »Diese verdammten Schweine! Oh, ich werde …« Sie sprang auf und presste die Hände an die Kehle. Ich sah, wie sie nach Luft rang. Sie trug einen dünnen weißen Pullover, und ihre Brüste hoben und senkten sich im Takt mit ihrem schweren Schluchzen. »Was sagst du dazu, Veum?«, wandte sie sich mir zu.
    Ich kaute. Ich kaute und kaute und kaute. Ich hätte noch hundert Jahre weiterkauen können, genau diese Scheibe wollte nicht runter. Ich ging ins Bad und spuckte sie in die Toilette. Dann ging ich zurück ins Wohnzimmer.
    Sie hatte sich wieder gesetzt. »Ich werde … oh!« Sie schlug mit der Faust gegen die Armlehne.
    »Dieser Jugendbetreuer«, sagte ich, »wie hieß er noch?«
    »Våge. Gunnar Våge. Wieso?«
    »Ich werde mal mit ihm reden.«
    »Das hilft nichts. Er ist ein Trottel. Der, der glaubt an diese Saukerle. Das ist ihr Hintergrund, sagt er. Du musst bedenken, aus was für Familien sie kommen, sagt er. Aus was für Familien kommen sie denn? Kommen wir etwa aus so guten Familien?«
    In einem sekundenschnell vorbeiflimmernden Bild sah ich ein anderes Wohnzimmer vor mir, tief unten in einer dunklen Gasse. Eine Mutter, die vorm Radio saß und strickte, einen Vater, der nach Hause kam in eine große, warme Küche, in Straßenbahner-Uniform und mit müden Gesichtszügen, ein Wohnzimmer mit großen grünen Topfpflanzen, in das wir erst am Abend gingen, und im Radio ein Gong und eine Stimme, die sagte: »Guten Abend, meine Name ist Cox.« Und anschließend eine Melodie, die sich so in uns festsetzte, dass wir noch zwanzig Jahre später jede einzelne Strophe davon summen konnten, und einem Text, den wir zu der Melodie dichteten und den wir bis an unser Lebensende nicht vergessen würden: »Cox ist mein Name/und Peacock ist Mörder/Pip ist verschwunden/und Margot ist tot/Cox ist verliebt in die schöne Helene/und im nächsten Jahr heiraten sie …«
    »Tun wir das, Veum?« Sie sah mich aus tränentrüben Augen an.
    »Tun wir was?«
    »Stammen wir aus so guten Familien?«
    »Manche von uns vielleicht. Andere nicht. Da spielt so vieles eine Rolle.«
    »Und wir setzen Kinder in diese Welt, in diese Hölle. Eine Welt von Verrätern und Lügnern und … Terroristen. Gibt es denn überhaupt etwas anderes als Elend? Ist es denn völlig unmöglich … darf man nie einfach nur … ein ganz bisschen glücklich sein?«
    Sie sah mich an, als hätte ich den Stein der Weisen geschaut. Aber das hatte ich nicht, ich wusste nicht einmal, wo er war. Ich war Veum, und mein Vater hatte mich Varg genannt. Er hätte mich ebenso gut Cox nennen können: das wäre aufs Gleiche

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