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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Jonas auch. Wenn wir von ähnlichen Fällen hörten, sagte er immer: Wir dürfen nicht urteilen. Eine Sache hat immer zwei Seiten. Zwei Seiten! Aber ich hätte nie, nie im Leben gedacht, dass ich mich selbst einmal in der gleichen Situation befinden würde.«
    Ihre Augen bekamen wieder diesen Schleier, und sie sagte, beinah zu sich selbst, nur ein Wort: »Enttäuscht …«
    Wieder füllte sie ihr Glas und sah fragend meines an. »Trinkst du nicht?«
    »Doch, aber ich muss noch fahren.«
    »Natürlich hätte ich einen anderen wählen können.« Nachdenkliche Pause. »Ich hätte einen anderen heiraten können.« Neue Pause. »Es gab ja andere.«
    Auf dem Fernsehschirm hielt ein dunkelhaariger Mann eine blonde Frau hart an den Oberarmen und schüttelte sie, während er sie stumm anfauchte. Eine Tür ging auf, und ein anderer Mann kam herein, mit einem verblüfften Gesichtsausdruck und einem Ausruf, der das stumme Gerät nicht verließ.
    »Aber nachdem ich Jonas getroffen hatte … Es kam ganz einfach kein anderer in Frage. So ist wohl die Liebe. Blind und taub und ohne Geruchssinn. Die Liebe blickt nie zehn Jahre in die Zukunft. Sie sieht gerade einmal die Nasenspitze vor sich, wenn überhaupt.«
    »Die Liebe – wer ist das?«, fragte ich. »Die Frau mit der dunklen Brille dort drüben am Ecktisch?«
    Sie sah mich fragend an. »Was?« Sie stand auf, etwas unsicher. »Und wir waren so glücklich. Die ersten Jahre. Hier, sieh mal …«
    Sie trat an das Bücherregal, suchte ein Fotoalbum heraus, kam zurück und setzte sich auf die Armlehne meines Sessels, beunruhigend nah. Sie öffnete das Album und legte es mir in den Schoß. Über mich gebeugt zeigte sie auf die schwarzen Seiten. »Da, sieh mal!«
    Es war einmal ein Sommer. Wenche Andresen und ihr Mann standen an einem dieser farblosen Strände vor einem grünen, sonnenglitzernden Meer mit einem kreideweißen, frisch gekalkten Hotel im Hintergrund. Ihre Körper waren jung und sonnengebräunt und ihre Zähne stark und weiß. Sie lächelten wie Kinder auf dem Jahrmarkt.
    »Teneriffa«, sagte sie. »Sommer 1970. Da haben wir Roar … gemacht. Und sieh hier, September. Da waren wir im Fjell. Jonas hatte eine Woche Herbstferien, und ich war gerade beim Arzt gewesen. Wir waren so glücklich.«
    Ich betrachtete das Bild. Abgesehen von der Kleidung und der Umgebung hätte es das gleiche Bild sein können. Sie waren im Hochgebirge, und im Hintergrund rechts lag eine niedrige, graue Steinhütte. Herbstfarbenes Gras und ein kräftiges und klares Blau am Himmel über ihnen. In ihrem Haar war Wind und sie trugen dicke Pullover. Und sie lächelten, lächelten.
    Sie hatte damals längeres und etwas helleres Haar gehabt. Sein Haar war halblang und voll. Auf beiden Bildern trug er eine Sonnenbrille. Sein Gesicht war hübsch, mit markanten Zügen. Er war breitschultrig und schien gut in Form zu sein.
    Sie blätterte weiter, und neue Bilder zogen vorbei. Jonas und Wenche auf einem Fest, er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und lächelte breit in die Kamera. Haar, das in die Stirn fiel. Sie tanzten, beide sahen mich an und lachten. Dann Wenche allein, auf dem Fløien, mit einer liebevollen Kamera aufgenommen. Jonas allein, am 17. Mai vor einem flaggengeschmückten Holzhaus an einem Berghang, das gleiche fröhliche Lachen, aber das Haar in der Stirn etwas kürzer.
    Sie blätterte zurück zu den Kinderbildern. Roar als Baby auf dem Wickeltisch, im Kinderbett, auf einem Stuhl sitzend, ohne den Blick auf die Kamera richten zu können. In einem Garten mit Obstbäumen in voller Blüte und blauen Bergen auf der anderen Seite eines glatten Fjords (es musste der Hardangerfjord sein) streckte er die Hand nach einer älteren, grauhaarigen Frau und einem jüngeren Mann mit zurückgekämmtem, dunklem Haar aus. Familienbilder aus dem gleichen Garten, die Gartenmöbel aus weiß gestrichenem Holz und Menschen, die wie auf einem Klassenfoto aufgereiht standen. Kinder unterschiedlichen Alters und Wenche Andresen mit Roar auf dem Arm.
    »Zu Hause«, erklärte sie.
    Da klingelte es an der Tür. Sie sah erst mich an und dann auf die Uhr.
    »Soll ich?«, fragte ich.
    »Nein, es ist das Beste, wenn ich …«
    Ich blieb im Wohnzimmer sitzen, das Album auf dem Schoß. Ich horchte. Ich hörte ihre Stimme als schwaches Plappern durch die geschlossene Tür.
    Ich blätterte weiter im Album, zu einer Zeit, die vor Jonas Andresen lag, einer Zeit, in der sie das Haar zu Zöpfen geflochten hatte und in der ihr Gesicht

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