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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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hinausgelaufen.
    Ich sah mich im Zimmer um. Der tote Fernsehapparat, die Bücherregale, die ganzen Nippes, das Bild der glücklichen Familie, die gestickten Bilder an der Wand, der Tisch mit den belegten Broten und dem Kakao, Roar, der dasaß und zuhörte und seine Mutter, die weinte und weinte.
    Ich stand auf und trat ans Fenster, als gäbe es dort Trost. Draußen war es stockdunkel, und es hatte angefangen zu regnen. Die Lichter dort unten in der Tiefe glänzten zu mir herauf wie tränenverhangene Augen, und von der Hauptstraße her hörte ich das ungleichmäßige Rauschen des Verkehrs. Und über dem Ganzen ragte drohend das Lyderhorn auf, als habe es sein eigenes finsteres Geheimnis: seine eigene dunkle Gewissheit über das Leben, das Glück und alles. Kein Wunder, dass die Sage gerade von diesem Gipfel erzählt, hier seien in der Johannisnacht die Hexen auf ihrem Weg zum Blocksberg gelandet.

11
    Roar war ins Bett gegangen. Sie hatte eine Flasche Rotwein hervorgeholt, einen dieser preiswerten Modeweine, die von Jahr zu Jahr wechseln. Dieses Jahr kam er aus Israel.
    »Möchtest du ein Glas Wein, bevor du gehst?«, fragte sie.
    »Ich könnte schon eins brauchen«, antwortete ich. »Auch wenn ich fahre. Vielleicht glaube ich dann, ich wäre ein besserer Fahrer.«
    Sie holte Gläser und schenkte ein. Es waren kleine runde Gläser ohne Fuß. Sie glichen mit Blut gefüllten Seifenblasen. Sie hob ihr Glas zu einem stummen Skål und wir tranken. Es schmeckte nach Herbst. September, Vogelbeeren und zertretenen Hagebutten auf den Bürgersteigen, alte Zeitungen, die im Rinnstein liegen und im ersten Herbstwind flattern, Menschen, die es eilig haben, um schneller nach Hause zu kommen. Ihre Lippen wurden feucht.
    Unaufgefordert sagte sie: »Wir waren so glücklich, Veum. Jonas und ich. Die ersten Jahre. Ich denke so oft an die ersten Jahre. Die Zeit, in der man einander entdeckt, weißt du? Wo du in einem Verliebtheitsrausch herumläufst und nichts siehst als den anderen. O Herrgott – Wie verliebt ich in ihn war!«
    Sie streckte die Hand nach einer Schale mit Erdnüssen aus: lange, weiße Finger mit reiner, frisch gewaschener Haut. Der Fernseher lief wieder, aber keiner von uns sah hin. Der Ton war abgedreht, und ein Mann mit kräftigen Kiefern redete stumm ins Zimmer.
    »Es war … ja, es muss 1967 gewesen sein. Er ging das letzte Jahr auf die Handelshochschule, und ich arbeitete als Sekretärin. Er hatte ein Zimmer in Møhlenpris, oben unter dem Dach. Abends lagen wir auf seiner Couch und schauten durch die beiden Fenster hinaus, zu den Sternen. Oder die Sommerabende mit ziehenden Wolken, und unsere Fenster standen offen, und die Düfte und das Gezwitscher der Vögel vom Nygårdspark kamen herein. Es war nur das eine Zimmer, eine Couch, ein Tisch und zwei Stühle und in einer Ecke ein kleiner Tisch mit einer Kochplatte. Die Toilette war auf der anderen Seite des Flurs. Bevor wir dorthin gingen, standen wir an der Tür und horchten, ob jemand kam. Und dann schlichen wir uns hinaus, barfuß oder auf Socken. Wenn ich daran denke, wie ärmlich es war, wie eng und klein – aber wir waren nie mehr so glücklich wie in diesen Jahren. Dann kam ja Roar, und es wurde zu klein. Wir fanden eine Wohnung ein Stück weiter oben in Nygårdshøyden, zwei Zimmer und Küche. Wir heirateten, als ich schwanger wurde. Nicht, weil wir mussten – so empfanden wir es damals nicht. Es gab einfach nur uns beide. Andere waren undenkbar. Das glücklichste Paar auf der Welt. Und dann …« Sie zuckte mit den Schultern und blickte traurig vor sich hin. Ihre Hände umschlossen das Weinglas, als müsse sie sie daran wärmen.
    »Natürlich waren wir jünger«, fuhr sie fort. »Man ist ja immer jünger – in den Jahren. Ich glaube, es geht wohl den meisten so, dass sie sich nach und nach verändern, auf jeden Fall ein bisschen. Jonas machten seinen Abschluss und bekam eine Stelle bei einer Werbeagentur. Eine relativ kleine Firma, nur fünf Mitarbeiter, und sie hatten viel zu tun. Er kam gegen sechs nach Hause, die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen vor lauter Stress – aber es war trotzdem eine gute Zeit. Roar war klein, ich musste doch an ihn denken, oder? Ein kleines Kind. Ich hörte im Büro auf und blieb ein paar Jahre zu Hause. Wir waren uns einig. So wollten wir es, solange er klein war. Und dann …«
    Sie schaute suchend in mein Gesicht. »Dann starb es irgendwie.«
    »Mit den Ehen ist es wie mit den Dinosauriern«, sagte ich. »Sie sterben

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