Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
noch jungmädchenhaft und rund war. Auf einem Bild starrte sie verliebt einen jungen Mann an, dessen blonde Locken steil in die Höhe gekämmt waren. Er trug ein weißes Hemd, das am Hals offen war, und es schien heiß zu sein. Sein Gesicht war sympathisch, und er lächelte offen – und die Form unter seinem Hemd deutete an, dass er im späteren Leben um einiges dicker sein würde. Auf einem anderen Bild ging sie Hand in Hand mit einem mageren, dunkelhaarigen jungen Mann, der einen Kopf größer war als sie. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd mit Schlips und sie ein helles Kleid mit Blumenmuster und weitem Rock. Sie blickte den Fotografen an, sagte etwas und lachte.
    Vielleicht hätte Wenche Andresen einen von diesen beiden wählen sollen. Vielleicht hätten sie es verdient, dass ein wenig mehr von ihnen übrig geblieben wäre als ein paar Bilder in einem alten Album, ein paar viereckige Stücke vergessenen Lebens.
    Ich hörte die Wohnungstür schlagen und dann war sie draußen in der Küche. Als sie zurückkam, sagte sie: »Es war nichts.«
    Sie setzte sich wieder auf meine Armlehne, mit den Hüften an meiner Schulter und meinem Oberarm. Ich klappte das Album zu und legte es auf den Tisch. Dann leerte ich mein Weinglas und sagte: »Ich muss mich wohl auf den Heimweg machen.«
    Ich warf einen Blick zu ihr hinauf, und sie schaute mit ihren großen, feuchten Augen auf mich hinunter. »Ich habe noch Wein«, sagte sie.
    »Ich glaube nicht, dass das …«, sagte ich.
    Sie seufzte.
    Ich sagte: »Du siehst so traurig aus. Das solltest du nicht. Es kommt schon wieder in Ordnung. Morgen schau ich mal bei diesem Jugendbetreuer rein und rede mit ihm. Dann komme ich kurz vorbei, wenn es dir passt?«
    Sie nickte.
    »Um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist«, fügte ich hinzu.
    Sie lächelte traurig, und ich stand auf.
    Sie blieb auf der Armlehne sitzen. Ich streckte die Hand aus und strich ihr behutsam übers Haar. »Die Trauer steht Wenche Andresen gut«, sagte ich, wie zu mir selbst.
    Sie hob mir ihr Gesicht entgegen. Ihre Lippen bebten.
    Also beugte ich mich vor und küsste sie: vorsichtig, so, wie ich ein kleines Kind küssen würde. Unsere Lippen tippten aneinander, öffneten sich, suchend und sanft.
    Ihr Körper neigte sich nach vorn, gegen meinen. Ich fühlte ihre Wärme, spürte ihre Finger auf meinem Rücken, zum Nacken hochtastend. Ich schloss die Augen und fiel in einen Schlaf, einen Dreißig-Sekunden-Dornröschenschlaf, einen Traumschlummer. Dann brach ein unschönes Bild in den Traum ein: das Bild von Roar, gefesselt in der Hütte. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Sie hatte die Augen geschlossen. Ich machte mich behutsam frei und ging vor ihr hinaus in den Flur.
    Dort draußen war der Zauber gebrochen, und sie wagte es nicht, mir in die Augen zu sehen. Wie ein Teenager stand sie mit gesenktem Kopf und versteckte sich nahezu hinter dem Türrahmen.
    Ich zog meine Jacke an und trat an die Wohnungstür. »Bis bald … Wenche«, sagte ich und hätte fast meine eigene Stimme nicht wieder erkannt.
    Sie nickte, und endlich blickte sie auf. Ihre Augen waren jetzt beinah violett – voll fragender Verwunderung, Angst oder etwas anderem. Und sie sahen nicht mehr danach aus, als könnten Vögel aus ihnen herausfliegen. Sie sahen aus, als führten sie in dunkle Tunnel, zu verräucherten Kellerlokalen und Räumen mit Wänden in kräftigen Farben, zu Opiumhöhlen und Dörfern tief im Dschungel.
    Ich lächelte ein steifes Lächeln, trat auf den Balkongang und schloss ihre Augen mit der Tür. Ich nahm den Fahrstuhl nach unten, setzte mich in meinen Wagen und fuhr meines Weges. Ich wurde erst wach, als ich schon in der Stadt war.

12
    Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem sauren Magen, steifem Nacken und Augäpfeln, die über Sand scheuerten, wenn ich sie bewegte. Regen und Schneeregen kratzten mit nassen Pfoten an meinem Schlafzimmerfenster. Das Licht wurde durch ein dichtes Teesieb gefiltert, und die Wolken hingen ungefähr zwischen den Hausdächern auf der anderen Seite der Gasse.
    Ich stieg aus dem Bett und legte mich davor auf den Fußboden. Ich machte drei Serien mit je zwanzig Nackenübun­gen und anschließend dreißig Liegestütze, bevor ich platt auf dem Teppich liegen blieb und fünf Minuten nur atmete. Das kurierte den Nacken.
    Dann ging ich in die Küche und mixte mir den Morgengrog des gescheiterten Pfadfinders: ein Glas eiskalte Milch und zwei Alka Seltzer. Das kurierte den

Weitere Kostenlose Bücher