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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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konnte ich das einsame, erleuchtete Fenster meines Büros erkennen, zwei Etagen über der Cafeteria im ersten Stock.
    Aber ich hatte keine Lust, über den Markt zu gehen und es auszuschalten. Es sollte bis morgen brennen – als Leuchtturm in der Nacht, als heimliche Botschaft für die Schiffbrüchigen.
    Stattdessen ging ich bergauf, den Berg hinauf zur Feuerwehrzentrale in Skansen und zu den endlosen Fjellebenen. Bergauf zu zwei schnellen Aquavits und einem Rollo. Mehr erwartete mich nicht: mehr brauchte ich nicht.
    Heute nicht und morgen nicht. Aber eines Tages, Eines Tages …

20
    Wenn man aus einem Traum erwacht, erwacht man so plötzlich, als würde man auf den Boden geworfen. Ich riss die Augen auf und war wach. Ich lag nackt unter der Decke und war mir meiner eigenen Nacktheit erschütternd bewusst. Ich hatte von einer Frau geträumt. Von einer Frau mit einem Haar, das weder braun noch rot war, sondern das wie Gesang ihr Gesicht umspülte, und mitten im Gesicht hatte sie ein Lächeln getragen, das noch in der Luft hing, wenn sie selbst wieder weg war, ein Lächeln, wie das der Katze in ›Alice im Wunderlands ein Lächeln, das sich in dich hineinbohrt und niemals in dir versiegt, ein Lächeln, das wie eine schöne Blume auf der Erde wächst, in der du liegst, wenn es einmal Frühling wird und du tot bist.
    Sie hatte mich angelächelt und sich vorgestellt. Wenche Andresen, hatte sie gesagt, und ihr Gesicht war undeutlich geworden, zerfließend. Und weit, weit in der Ferne hatte ein Junge nach mir gerufen, eine klare, reine Jungenstimme, und er war mir entgegengelaufen, mit einem Fußball unter dem Arm und in zu kurzen Hosen, und er hatte gerufen. Es war Thomas, nein, es war … Roar. Und ich hatte versucht, mich an ihr Lächeln zu hängen, diesen Halbmond, der halb heruntergefallen war, weil sich eine Heftzwecke gelöst hatte, und ich hatte versucht, mich auf ihn zu schwingen … Dann war ich aufgewacht.
    Ich rollte mich aus dem Bett und auf den Fußboden. Ich streckte die Hand zum Nachttisch und fischte meine Uhr herunter. Es war schon nach zwölf. Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen. Wenn nun jemand angerufen hatte – im Büro. Jemand, der wollte, dass ich seinen Pudel ausführte, oder eine entlaufene Waschmaschine suchte oder den Schnee von gestern.
    Ich hatte einen Geschmack wie von welkem Gras im Mund. Das war der eine Aquavit, den ich zu viel getrunken hatte.
    Die sechs – oder waren es sieben? – Halben lagen wie Blei in meinem Bauch und ich spürte, dass ich an diesem Morgen Probleme mit den Zündkerzen bekommen würde. Ich brauchte einen heftigeren Wachmacher als seitwärts aus einem Traum geworfen zu werden.
    Ich tapste ins Bad und drehte das warme und das kalte Wasser auf, seifte mich langsam vom Haar bis zu den Zehen ein und ließ dann mit geschlossenen Augen das Wasser einfach an mir herunterfließen. Ich blieb mit Absicht so lange stehen, bis das heiße Wasser verbraucht war. Nach zwei Minuten unter dem kalten fühlte ich mich wach genug und drehte den Hahn zu. Ich frottierte mich wieder warm und absolvierte eine schnelle Kombination aus entspannenden Yogabewegungen und aufbau­enden Bauch- und Nackenübungen auf dem Wohnzimmer­fußboden. Dann ging ich in die Küche.
    An diesem Tag brauchte ich eine Tasse Tee. Sehr, sehr dünnen Tee mit sehr viel Zucker – und eine Tasse war nicht genug. Ich brauchte dünne Scheiben Vollkornbrot mit großen, feuchten Gurken und Tomatenscheiben drauf. Und noch mehr Tee. Mit noch mehr Zucker.
    Kurz nach halb zwölf fühlte ich mich in der Lage, ins Auto zu steigen. Ich fuhr ins Büro und schaltete das Licht von gestern aus. Dann blieb ich im Halbdunkel sitzen und starrte an die Wand, die sich durch das trübe Tageslicht graugrün färbte.
    Ich dachte an Jonas Andresen und an das, was er mir erzählt hatte. Ich dachte an Wenche Andresen und an das, was sie mir erzählt hatte. Und ich dachte, dass keine Ehe wie die andere ist – nicht einmal für diejenigen, die sich mittendrin befinden. Weil keine zwei Menschen die Dinge gleich erlebten. Wenche und Jonas Andresen hatten mir jeweils ihre Geschichte von zwei völlig verschiedenen Ehen erzählt und zwei völlig verschiedene Geschichten von Untreue.
    Es war ein Spiel gewesen und keiner von beiden hatte gewonnen. Beide hatten verloren. Und aus irgendeinem Grunde hatten sie mich hineingezogen – als Richter, als Linienrichter oder als Gott-weiß-was.
    Ich sah wieder auf die Uhr. Es war fast drei. Wie lange

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