Dein bis in den Tod
war sie im Büro beim Håkonsvern? Bis vier? Ich könnte sie anrufen. Oder ich könnte rausfahren und persönlich Bericht erstatten. Aber was sollte ich berichten? Dass ich so viele Halbe mit ihrem früheren Mann getrunken hatte, dass ich aufgehört hatte zu zählen? Sollte ich sie vielleicht mit auf die Rechnung setzen, wenn es denn eine Rechnung gäbe?
Ich konnte auf jeden Fall rausfahren. Da draußen gab es genügend Freizeitaktivitäten für einen rastlosen Privatdetektiv. Ich konnte in den Wald laufen und ein bisschen mit Joker und seiner Gang spielen, mir ein paar neue blaue Flecken abholen. Ich konnte ein bisschen mit Gunnar Våge streiten oder mit Solfrid Brede im Fahrstuhl stecken bleiben. Ich konnte mit Hildur Pedersen Wodka trinken oder mit Roar Mensch ärgere dich nicht spielen.
Ich könnte – Wenche Andresen küssen.
Ich legte meine Finger an den Mund. Ihr Kuss ruhte noch immer dort, wie eine Jugenderinnerung. Es war lange her, dass jemand mich so sanft geküsst hatte. Es war überhaupt lange her, dass mich jemand geküsst hatte. Ich lief nicht mit einem Mund herum, den man einfach so küsste. Fremde taten das nicht, und mehr als Fremde wurden die wenigsten. Und selbst dann war es nicht sicher, dass sie mich küssen wollten.
Ich dachte an Beate, versuchte mich daran zu erinnern, wie es war, von ihr geküsst zu werden. Aber es war zu lange her, viel zu viele dunkle, mondleere Nächte her.
Es gab also viele Möglichkeiten – dort draußen. Ich schloss das Büro hinter mir ab, ohne das Licht anzuschalten, und setzte mich ins Auto.
21
Ich parkte und blieb im Wagen sitzen. Ein Stück entfernt stand ein junger, magerer Mann mit dem Rücken gegen einen Laternenpfahl gelehnt, die Daumen in die Taschen der hellen Jeans gehakt, die schwarze Lederjacke halb offen, eine verglühte Zigarette im Mundwinkel und mit einem Ausdruck wie von einer aufkeimenden Pest im Gesicht. Es war Joker.
Sein Blick war mir gefolgt während ich auf den Parkplatz fuhr, und nun hing er wie Blutegel in meinem Gesicht.
Ich öffnete die Wagentür und stieg aus. Ich sah mich um, als sähe ich ihn nicht. Das Lyderhorn erhob sich an seinem Platz, die vier Häuserblöcke ebenso. Keiner von ihnen hatte sich bewegt, keiner war zusammengefallen.
Automatisch wanderte mein Blick hoch zur Wohnung von Wenche Andresen. Die Fenster waren erleuchtet.
Dann fiel mein Blick wie zufällig auf Joker. Unsere Blicke trafen sich, und er rollte die Zigarette in den anderen Mundwinkel.
Ich sah mich um, warf erneut einen Blick zur Wohnung von Wenche Andresen. Auf dem Balkon vor der Wohnung ging jemand. Es könnte …
»Willste dir noch ’ne Runde Prügel abholen, Hopalong?«, ertönte seine dünne Stimme.
Ich ließ den Blick wieder zu Joker wandern und bewegte mich auf ihn zu. »Hast du etwa Lust, mein Pferd zu sein?«, fragte ich.
Als ich nah genug gekommen war, sah ich einen Schweißtropfen im Flaum über seiner Oberlippe. Sein Blick flackerte. Ich sagte: »Ich kann deine Handlanger nicht sehen. Haben sie die Nase voll? Glaubst du denn, du schaffst mich alleine? Ohne Stahl? Es heißt in dem Lied Stahl in Armen und Beinen, weißt du, nicht in den Fäusten, kein Messerstahl. Es tut so verdammt weh, wenn ich dir auf die Finger treten muss, weißt du. Ein paar könnten kaputtgehen, und dann kannst du dir viele Monate lang nicht am Bart zupfen.«
Seine Stimme klang noch dünner. »Ich will mich nicht mit dir prügeln, Mister. Nicht jetzt. Aber ich warne dich. Tritt mir nicht auf die Zehen …«
»Ich sprach von Fingern.«
»Weil dann … Die Abende sind dunkel hier draußen, und …«
»Wer hat gesagt, dass ich vorhabe, meine Abende hier zu verbringen?« Unwillkürlich musste ich wieder nach oben sehen. Jetzt stand die Tür offen. Jemand stand in der Türöffnung, aber auf die Entfernung …
»Siehst du nach deiner Hure?«, fragte Joker. »Keine Sorge. Sie hat Besuch. Vom Alten persönlich. Andresen.«
Also hatte ich doch Jonas Andresen gesehen.
Ich trat dicht vor ihn, so dicht, dass er zusammenzuckte. »Nenn du sie noch einmal so, Kleiner, und ich breche dich in zwei Teile und schicke dich per Express in zwei Päckchen an dieselbe Adresse. Dann kannst du sicher sein, dass du dich nie wieder triffst.«
Seine Augen wurden schmal, aber ich konnte nicht erkennen, ob aus Wut oder aus Furcht. Er sagte: »Und lass meine Mutter in Ruhe – sonst … Sonst bring ich dich um!« Das Letzte zischte er mit Fistelstimme hervor.
Ich hatte Lust, ihn zu
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