Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
neben ihm lag – groteskerweise – ein zerbrochenes Marmeladenglas. Die rote Marmelade vermischte sich mit dem Blut.
    Ich trat zu Wenche Andresen, nahm ihr vorsichtig das Messer aus der Hand und hielt es zwischen zwei schmalen Fingern ganz außen am Schaft.
    Es war ein Springmesser, so eines wie Joker es sicher benutzt hätte.
    Aber wer hatte es benutzt?
    Mein Blick wanderte zu Wenche Andresen. Ihre Augen erfüllten meine: groß, schwarz und voller Angst. »Ich – ich kam aus dem Keller – mit dem Marmeladenglas. Er – er lag da … Ich – ich weiß nicht, was ich tat. Ich – ich habe wohl … Als ob das etwas helfen würde …«
    »Du hast das Messer herausgezogen?«
    »Ja. Ja! War das dumm von mir, Varg?«
    »Nein nein.« Doch, es war dumm von ihr gewesen, aber wer hätte das Herz, ihr das zu sagen?
    »Hast du niemanden gesehen?«, fragte ich.
    »Nein.«
    »Hast du – den Fahrstuhl genommen?«
    »Nein, die Treppe. Ich mag nicht … Oh Varg, Varg! Herrgott … Was ist bloß passiert?«
    »Warte mal – warte mal!« Es war nicht notwendig, aber zur Sicherheit beugte ich mich hinunter und tastete nach seinem Puls. Ich wollte nicht der sein, der dastand und das Leben eines sterbenden Mannes verplapperte. Aber es war kein Pulsschlag zu finden. Er war längst in das hinterste Büro im hintersten Korridor gerufen worden, wo er vor dem letzten aller Chefs Rechenschaft ablegen musste.
    Ich sagte: »Hatte er angerufen und gesagt, dass er kommen wollte?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte keine Ahnung. Ich wollte in den Keller und ein Glas Marmelade holen, und als ich wieder raufkam, da … da – lag er hier. Ich glaube – ich habe wohl das Glas verloren – und – das Messer, das …« Sie sah auf ihre leere Hand hinab, aber das Messer war nicht mehr da. Es lag auf der Kommode, wie eine Giftschlange in einem Museum, ganz harmlos.
    »Aber – hast du die Türe offen stehen lassen, als du in den Keller gingst?«
    »Nein, bist du verrückt – hier draußen?«
    Nein. Mit einem Kopfschütteln gab ich ihr zu verstehen, dass ich nicht verrückt war.
    Sie sagte: »Er muss selbst aufgeschlossen haben, mit seinem Schlüssel.«
    Ich sah mich auf dem Boden um. Dort lagen keine Schlüssel. Aber er hatte sie wahrscheinlich wieder in die Tasche gesteckt.
    Ich versuchte schnell zu rekonstruieren: Er hatte die Tür aufgeschlossen. Niemand zu Hause. Er war zur Tür zurückgegangen und hatte sie geöffnet. Irgendjemand hatte davor gestanden.
    Oder er hatte sie nicht hinter sich geschlossen, und irgendjemand war ihm in die Wohnung gefolgt.
    Oder irgendjemand war in der Wohnung gewesen, hatte dort auf ihn gewartet?
    Nein. Das stimmte nicht. Nichts stimmte. Eine Leiche auf dem Boden stimmt nie.
    Ein letzter Gedanke kam mir plötzlich. »Roar«, sagte ich. »Wo ist Roar?«
    Sie zuckte mit den Schultern, hilflos. »Draußen – irgendwo.«
    Ich ging zur Wohnungstür zurück und schloss sie sorgfältig zu. Dann stieg ich über Jonas Andresen, ging an Wenche Andresen vorbei und hinein, um zu telefonieren.

23
    Nachdem ich telefoniert hatte, ging ich zu Wenche Andresen zurück und führte sie hinaus auf den Balkon. Sie brauchte frische Luft. Wir brauchten beide frische Luft. Außerdem wollte ich unbedingt Roar aufhalten, bevor er in die Wohnung kam.
    Wir standen draußen in dem graubleichen Märznachmittag, mit Aussicht auf das Lyderhorn. Ein Buckel kratzte an der tiefen Wolkendecke. Wenn man vom Meer aus in die Stadt hineinkam, lag der Berg da wie ein schlummernder Teufel. Von hier aus erinnerte er an einen teuflischen Reißzahn, schmutzig braun von altem Blut.
    Wenche Andresen sagte nichts. Sie hatte ihre Arme um sich geschlungen, als würde sie frieren, mit einem Gesicht, das sich um eine Trauer und um einen Schmerz herum verschlossen hatte, den niemand anders verstehen konnte. Trauer und Schmerz sind eine einsame Sache. Wie die Liebe.
    Sie trug einen blauen Rollkragenpullover und drüber eine graue Strickjacke, dazu dunkelblaue Samthosen und Turnschuhe. Ihr Haar stand wild um das bleiche Gesicht, und ihr Mund hatte einen noch bittereren Zug als vorher.
    Ich fragte mich, wo sie wohl die Nacht verbringen würde und befürchtete, dass es wohl in einem länglichen Raum mit einem klitzekleinen Gitterfenster sein würde, mit einer Pritsche, einem Wasserhahn und einem Eimer. Die Indizien waren etwas zu deutlich, egal, was sie sagte. Ich wusste, was die denken würden, die auf dem Weg zu uns waren: ich wusste, was sie sagen

Weitere Kostenlose Bücher