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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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schlagen, hart und gezielt in den Magen, so dass er zusammenbrach und auf dem Weg nach unten auf meine Faust traf. Aber ich tat es nicht. Ich dachte an seine Mutter, und ich dachte an Wenche Andresen.
    Ich sah wieder hinauf. Ihre Tür stand immer noch offen und irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste nicht, was.
    Dann passierte dort oben etwas. Ich sah Wenche Andresen aus dem Treppenhaus kommen. Sie rannte und hielt etwas in der Hand, dann verschwand sie in der Wohnung.
    Ich stand da, starrte nach oben und spürte Joker kaum neben mir. Als ich zur Seite blickte, war er meinem Blick gefolgt. »Was ist da los?«, fragte er. Seine Stimme war plötzlich jung und zart.
    Dann kam Wenche Andresen wieder in der Tür zum Vorschein. Sie bewegte sich auf eine merkwürdige, schwebende Weise und trat an das Balkongeländer. Ich sah, wie sie sich nach vorn lehnte.
    Einen Augenblick dachte ich fast, sie würde runterspringen, sich hinausstürzen und wie ein riesiger Vogel zu uns herabschweben. Aber sie sprang nicht und ich hörte sie rufen: »Hilfe! Hilfe! Hiilfeee!«
    Dann war sie wieder verschwunden, von der gähnenden Türöffnung verschluckt. Ich setzte mich in Bewegung. Hinter mir hörte ich Joker. Er lief in die andere Richtung, aber es war mir egal, in welche. Das einzige, was mir im Moment wichtig war, das war eine Frau, die Wenche Andresen hieß und kein Vogel war, aber die um Hilfe gerufen hatte.
    Und damit hatte sie – damit musste sie mich gemeint haben.

22
    Ich stürmte ins Haus. An der einen Fahrstuhltür hing ein Zettel, auf dem defekt stand. Der andere Fahrstuhl war auf dem Weg nach unten, aber ich hatte keine Zeit zu warten.
    Ich lief ins Treppenhaus und hastete nach oben. Auf halbem Wege blieb ich stehen und rang nach Luft. Es musste Wenche gewesen sein, die im Fahrstuhl nach unten fuhr. Der Schreck hatte sie also nicht gelähmt.
    Ich kletterte nach oben, und mein Blut pochte hinter den Augen, die sich mit schwarzen, tanzenden Flecken füllten. Ich hörte meinen eigenen Atem, als wenn plötzliche Windböen im Herbst um die Ecke fegen.
    Dann war ich oben. Ich taumelte durch die Tür auf den Balkon und lief das letzte Stück. Mir war übel, richtig übel.
    Die Tür zur Wohnung stand noch immer offen und ich klingelte nicht, ich ging sofort hinein.
    Weit brauchte ich nicht zu gehen. Nur bis direkt hinter der Tür. Das war mehr als genug.
    Jonas Andresen lag auf dem Boden, halb auf der Seite, zum Teil um das gekrümmt, was der fatale Mittelpunkt seines letzten Augenblicks war: ein blutendes Loch im Bauch.
    Seine beiden Hände klammerten sich an den aufgerissenen Hemdstoff vor dem Bauch, wie um das Leben festzuhalten. Aber es hatte nichts genützt. Es war aus ihm herausgeströmt wie aus einem geplatzten Ballon. Jemand hatte ihn aufgeschlitzt, mit ein paar schicksalhaften Stößen, und sein Gesicht hatte längst die endgültige Ruhe gefunden, sein Körper hatte sich längst zur Ruhe gelegt. Er würde kein Export mehr trinken, er würde überhaupt nichts mehr tun.
    Und über ihm, mit dem Rücken an der Wand und einem blutigen Messer in der Hand, stand Wenche Andresen, und ihr Gesicht war ein stummer Schrei, ein gefrorener Hilferuf – Hilfe! Ein Albtraum war mit klaren, weißen Kreidestrichen in ihr Gesicht gezeichnet, das nie mehr ganz das alte werden würde.
    In meinem Kopf hörte ich seine Stimme vom Abend zuvor. Was hatte er gesagt? Wenn du sie endlich triffst – wirklich deiner Traumfrau begegnest – dann fühlst du plötzlich, dass du endlos viel Zeit hast, dass du das ganze Leben vor dir hast und dass du warten kannst …
    Aber Jonas hatte nicht endlos viel Zeit gehabt, er hatte nicht das ganze Leben vor sich gehabt, und er hatte nicht warten können. Er war seiner Traumfrau begegnet, und dann – sorti. Exit. Er geht.
    Er geht und geht und kommt nie mehr weiter. Er hat sich auf den endlosen Marsch begeben, den letzten von allen.
    Sein Bart wirkte jetzt merkwürdig zerzaust. Die Brille saß schief, das Hemd war zerrissen und der Anzug verrutscht. Er lag in einem See von Blut, und er brauchte keine Schwimmweste, hatte keinen Rettungsring. Aber sein Gesicht hatte einen friedlichen Ausdruck, als habe er sich gerade gebückt, um eine Blume zu pflücken und ihren Duft eingesogen.
    Jonas hatte seinen letzten Wal geentert und würde niemals mehr herauskommen.
    Draußen standen wir anderen: die Überlebenden, die wir seinen Tod mit uns tragen würden.
    Ich sammelte mich, versuchte, mir Details zu merken. Auf dem Boden

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