Dein bis in den Tod
führte das Wort. Sie zog die Hände aus dem Schrank und betrachtete sie, als habe sie sie in Schmutzwasser getaucht. Sie fragte: »Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«
Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Frauen, die mich »junger Mann« nennen. Ich bekomme immer Lust »alte Frau« zu ihnen zu sagen. Aber das tue ich nie. Das tut man nicht, nicht einmal in meinem Kreisen (wenn ich welche hätte). Ich sagte: »Ich würde gern mit Paulus Smith sprechen«, und hoffte, den richtigen Ton getroffen zu haben.
Sie kniff ein Auge zu und betrachtete mich mit dem anderen, über den Rand ihrer halbmondförmigen, randlosen Brillengläser. »Haben Sie einen Termin?«
Ich sagte: »Nein, aber …«
»Dann kommt es nicht in Frage. Der Herr Advokat ist sehr beschäftigt. Sie können eventuell mit einem seiner …«
Ein relativ junger Mann trat ganz hinten aus einer Tür. Sein Alter war so unbestimmbar wie das vieler Menschen, die in solchen Büros arbeiten, vom Anfang bis zum Ende ihrer Karriere als Büroangestellter. Ungefähr um die vierzig in einem grauen Anzug, der nicht besonders gut über dem saß, was er darunter trug, ein weißes Hemd und ein Schlips, den ich sogar als Konfirmand abgelehnt hätte. Er trat zu der jüngeren Sekretärin, legte ein Blatt Papier auf den Tisch neben ihr, sagte ein paar Worte, sah mich zerstreut an und verschwand wieder in seinem Büro. Ich stand da und lauschte seinen Schritten. Solche Leute haben meistens einen schlurfenden Gang. Dieser hier allerdings nicht. Er war hundertprozentig geräuschlos. Vielleicht gab es ihn überhaupt nicht. Vielleicht hatte nur ich ihn gesehen.
Die ältere Sekretärin sagte: »Ich kann Herrn Smith Junior fragen, ob er eventuell ein paar Minuten erübrigen kann.«
Ich antwortete: »Ich brauche mehr als ein paar Minuten, und Smith Junior ist leider nicht genug. Sagen Sie Paulus Smith, dass es um den Mordfall geht, den er gestern übernommen hat – oder vorgestern.«
Sie sah sofort aus, als würde sie zumindest erwägen, mich ernst zu nehmen. Mit einem kleinen Ruck im Nacken sagte sie: »Also gut, ich werde nachfragen …«
Dann verschwand sie hinter einer schweren Eichentür, und die jüngere Sekretärin wendete sich wieder ihrer Schreibmaschine zu – als habe sie Angst, ich könnte sie ansprechen.
Nach einer halben Minute kam die Ältere wieder zurück und erklärte: »Der Herr Advokat kann fünf Minuten erübrigen.«
Ich sagte: »Sagen wir zehn« und ging hinein.
Paulus Smith war Ende fünfzig, ein kleiner gedrungener Mann, ungefähr 1,60 groß, aber kräftig gebaut. Er konnte eine breite Hemdbrust vorweisen und kurze, kräftige Beine, auf denen er sicher schnell und weit gehen konnte, ohne müde zu werden. Sein Haar war ganz weiß, nach hinten gekämmt, und seine Gesichtsfarbe war frisch und hatte einen braunen Ton, der von vielen Stunden an der frischen Luft zeugte, so als käme er direkt von einem vierzehntägigen Aufenthalt auf der Hardangervidda.
Er war einer der führenden Anwälte der Stadt und das schon seit einer Generation. Nicht ohne Grund hatten die Jungs bei der Polizeikammer ihn »den guten alten Smitti« genannt, denn wenn es irgendwo einen Paragrafen gab, von dem noch niemand gehört hatte (weder früher noch später), der aber zum Vorteil seines Klienten genutzt werden konnte, dann zog Smith ihn wie ein zappelndes Kaninchen aus dem Hut. Er hatte jeden kleinsten Gesetzesparagrafen in einer inneren Kartei gespeichert, die alle Datensysteme übertraf, und die noch immer hundertprozentig funktionierte.
Jetzt kam er um den Schreibtisch herum auf mich zu. Er ergriff meine Hand und starrte mir ins Gesicht. Seine Augen waren jugendlich und blau und sie stachen aus der zerfurchten, braun gegerbten Gesichtshaut hervor.
Ich sagte: »Veum. Varg Veum. Ich …«
Er unterbrach mich mit einer tiefen Stimme, die es gewohnt war, zu unterbrechen und gehört zu werden. »Ja, ich habe von Ihnen gehört. Guten Tag. Ich bin Paulus Smith. Wenche Andresen hat schon einiges berichtet, und außerdem habe ich schon früher von Ihnen gehört. Bitte nehmen Sie Platz. Ich möchte gerne hören, was Sie zu sagen haben. Es ist ein in vieler Hinsicht interessanter Fall.«
Er wies mich zu einem schwarzen Ledersessel und setzte sich selbst hinter den Schreibtisch. Er musste einen hohen Stuhl haben, denn er sah im Sitzen deutlich größer aus als im Stehen. Er stützte beide Arme auf die dunkelbraune Mahagoniplatte und faltete die kräftigen Hände. Es waren
Weitere Kostenlose Bücher