Dein bis in den Tod
stimmt’s?«
»Genau.«
»Er hatte kein Geld bei sich, als er – das heißt, nicht so viel. Wir haben außerdem Kontakt zu der Versicherungsgesellschaft aufgenommen, und sie haben überhaupt nichts von ihm gehört. Also, was er eigentlich wollte – das werden wir wohl nicht erfahren, bevor …«
»Bevor?«
»Bevor sie redet.«
»Und sie bleibt bei ihrer ursprünglichen Erklärung?«
Er nickte ernst. »Sie streitet alles ab. Aber das wird ihr nicht helfen. Wir können schon jetzt den gesamten Handlungsverlauf rekonstruieren.«
Er hielt seine Hand hoch und zählte die Punkte an seinen Fingern ab. »Punkt 1: Jonas Andresen kommt. Entweder klingelt er oder er schließt sich selbst auf. Er hatte einen Schlüssel dabei. – Punkt 2: Wenche Andresen öffnet, mit dem Marmeladenglas in der Hand. Oder: Sie kommt mit dem Marmeladenglas aus dem Keller, direkt nachdem er geklingelt oder aufgeschlossen hat. Vielleicht sahst du sie laufen, weil sie die Tür offen stehen sah, wie sie es im Grunde selbst sagt. Aber sie fand keine Leiche, denn – Punkt 3: Sie schlägt oder wirft das Marmeladenglas gegen seine Stirn. Warum können wir noch nicht sagen. – Punkt 4: Er versucht, sich zu verteidigen oder vielleicht schlägt er zurück, jedenfalls: Sie greift nach dem Messer und sticht ihn nieder. Sie sticht mehrmals zu. – Punkt 5: Sie gerät in Panik und versucht zu flüchten, besinnt sich aber unterwegs und läuft in die Wohnung zurück – und du siehst sie, Veum. – Punkt 6: Sie ruft um Hilfe. Den weiteren Verlauf kennst du.«
»Aber«, wandte ich ein. »Sie hatte kein Springmesser. Eine Frau wie Wenche Andresen läuft nicht mit einem Springmesser herum.«
»Nein, nein. Es gibt noch ein paar unklare Punkte. Aber das Skelett ist klar, und die Indizien sprechen eine deutliche Sprache. Für mich gibt es keinen Zweifel, Veum. Wenche Andresen hat ihren Mann getötet, vorgestern Nachmittag, circa um vier Uhr.«
»Gibt es eine Möglichkeit für mich, mit ihr zu sprechen?«
Er sah mich nachdenklich an. »Sie hat Brief- und Besuchsverbot. Deine einzige Chance wäre, dass du eine Art Absprache mit Smitti triffst. Und in jedem Fall brauchst du die Zustimmung des Staatsanwalts. Andererseits: Ich werde vorschlagen, sie noch mal dem Untersuchungsrichter vorzuführen, morgen schon. Und da die Indizien schon jetzt so eindeutig sind, werde ich jedenfalls nicht auf einem weiteren Brief- und Besuchsverbot bestehen.«
»Morgen kann es zu spät sein«, sagte ich.
»Zu spät wofür?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern und hob die Arme. Darauf konnte ich ihm keine Antwort geben. Ich hatte keine sachlichen Einwände, keine vernünftigen Gegenargumente. Ich hatte nichts weiter als ein ganz subjektives Gefühl, das sogar ganz falsch sein konnte. Ich glaubte einfach nicht, dass Wenche Andresen ihren Mann getötet hatte.
Ich stand auf. Gleichzeitig klingelte das Telefon. Er nahm ab und sagte: »Einen Moment.« Dann lächelte er entschuldigend und nickte mich aus dem Raum. »Wir sehen uns – vor Gericht«, sagte er.
Ich blieb auf der Schwelle einen Augenblick stehen. Aber mir fiel keine gute Antwort ein, also ging ich und schloss die Tür hinter mir.
Die Büroräume des renommierten Anwalts Paulus Smith lagen zur Torgalmenning hinaus und schienen sich seit den zwanziger Jahren nicht besonders verändert zu haben: dunkelgrüne Wände, hell- und dunkelbraunes Parkett, das diskret an ein Schachbrett erinnerte. Auf diesem Schachbrett war Paulus Smith der König, während ich mich fühlte wie ein – nicht wie ein Bauer, sondern wie ein Springer: einen Schritt vor und zwei zur Seite. Das einzige, was sich seit den zwanziger Jahren verändert haben musste, waren die Sekretärinnen (jedenfalls die eine von ihnen) und die Schreibmaschinen.
Es gab zwei Sekretärinnen, eine ältere, grauhaarige Frau in heller Bluse über hohem Busen und einem grauen Rock, der dort, wo er endete – direkt unterhalb der Knie – sehr eng war und den sie seit dem Ende der vierziger Jahre getragen haben konnte. Die andere Frau war jung, Ende zwanzig, hatte dunkelbraunes Haar mit Mittelscheitel und trug eine große, dunkle Brille. Beide Frauen betrachteten mich wie Eulen, als ich das Büro betrat. Die ältere hatte beide Hände in einen grauen Archivschrank versenkt, als sei sie auf frischer Tat ertappt worden. Die jüngere hatte die Finger von der Tastatur gehoben, zum Anschlag bereit, aber reglos und mit einem abwartenden Gesichtsausdruck.
Die Ältere
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