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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Hintergrundinformationen zu dem Mord bekommen, sie hatten ihre Fotografen an den Tatort geschickt, hatten andere Hausbewohner interviewt, Leute, die etwas »gehört« hatten. Ein Mann, der in der einen Zeitung abgebildet war, erzählte, wie er auf seinem Sofa gesessen und Nachrichten gesehen hatte, als ein anderer Mann plötzlich mit seiner Salonflinte vom Nachbarblock aus durch sein Wohnzimmerfenster geschossen hatte. Was diese Episode mit dem aktuellen Fall zu tun hatte, stand dort nicht. Aber der Mann war jedenfalls in die Zeitung gekommen. In seiner kleinen Welt von drei Zimmern, Küche, Bad war er sicher der Held des Tages.
    Aus den Artikeln ging deutlich hervor, dass die Presse den Mord nicht sonderlich interessant fand, da der mutmaßliche Mörder schon hinter Schloss und Riegel saß. Die Polizei suchte zwar nach Augenzeugen, und die Nachforschungen liefen auf Hochtouren, aber Oberinspektor Hamre von der Kriminalpolizei rechnete damit, dass sie sehr bald abgeschlossen würden.
    Ich faltete die Zeitungen zusammen und legte sie vor mir auf den Tisch. Dann sah ich mich im Lokal um. Hinten an einem Ecktisch saßen vier Ausländer und tranken Tee, aßen Sahnetorte und spielten Karten. Es sah so aus, als würden sie dort wohnen. Am Tisch neben mir saß eine füllige Frau mit rot geflecktem Gesicht, einem blauen Hut auf dem Kopf und einer aufgeschlagenen Zeitung. Aber sie las nicht. Über den Rand der Zeitung hinweg beobachtete sie mich mit stechenden, misstrauischen Augen. Sie senkte nicht einmal den Blick, als ich sie ansah. An einem anderen Tisch stand ein betrunkener Junge um die achtzehn über die Tischplatte gebeugt und versuchte, mit zwei Teenagermädels ins Gespräch zu kommen, die dem Dialekt zufolge irgendwo aus der Sogngegend kamen. Sie steckten die Köpfe zusammen und kicherten errötend, während sie sich mit unsteten Blicken umsahen.
    Über dem Ganzen surrte die konstante atonale Musik, die alle Cafés dieser Art erfüllt: die Geräusche der Kasse, das Blubbern der Kaffeemaschine, Stimmen in allen Tonlagen, das Klirren von Kaffeetassen auf Untertassen, von Messern und Löffeln und Gabeln auf Tellern. Die Luft war stickig von Zigarettenrauch und mit Essengeruch gewürzt.
    Dann sah ich ihn.
    Er saß fünf, sechs Tische von mir entfernt und sah mich nicht. Seine Augen starrten blind und ziellos in den Raum, so wie Menschen vor sich hin starren, wenn sie etwas entdeckt haben, was sie nicht sehen wollen. Er hielt sich die Kaffeetasse vor das Gesicht, als wolle er sich dahinter verstecken, ein großer, schlaksiger Mann, der aussah wie ein junger Welpe. Zu meiner Zufriedenheit stellte ich fest, dass sein Haar langsam grau wurde, und dass er so blass aussah wie immer schon, seit ich ihn kannte oder eher: ab und zu gesehen hatte. Aus irgendeinem Grund dachte ich immer an ihn als meinen Schwager. Er hieß Lars Vik und war Lehrer und Ehemann einer Frau namens Beate, mit der ich einmal verheiratet gewesen war. Er war Thomas’ neuer Vater.
    Ich beobachtete ihn eine Weile, und er konnte es nicht vermeiden, in meine Richtung zu sehen, bevor er ging. Da entdeckte er mich auffallend plötzlich, lächelte wie ein Fisch an der Angel, erhob sich und kam zu mir herüber.
    »Hallo«, sagte er.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Ich hatte eine Freistunde, hatte keine Lust zu korrigieren und hab hier schnell einen Kaffee getrunken und ein bisschen Zeitung gelesen.«
    »Wie geht es Thomas?«
    »Gut. Er geht in – die Vorschule, weißt du – fängt im Sommer mit der Grundschule an.«
    »Ja, das weiß ich. Ein bisschen kriege ich immer noch mit.«
    »Ja, klar, so war das nicht gemeint. Aber … Es gibt wohl keinen Grund – wir brauchen doch nicht mehr böse aufeinander zu sein, oder? Es ist doch so lange her – das alles.«
    »Alles ist nach einer Weile lange her.« Das war ein Trost. Auch dies würde in ein paar Jahren lange her sein, auch das Bild von Jonas Andresen würde verblassen, wie alle Bilder verblassen – nach einer gewissen Zeit.
    »Aber ich muss los. Zurück zu den Schülern.«
    »Okay. Viele Grüße an – die beiden.«
    »Danke. Mach’s gut.« Er lächelte erleichtert und trabte davon, ein großer, schlaksiger Mann, der sich als besserer Ehemann und Vater erwiesen hatte, als ich es gewesen war. Ich hob meine Kaffeetasse zu einem stillen Gruß. Ein paar Minuten später ging ich auch, in dieselbe Richtung.
     
    Weibliche Untersuchungshäftlinge werden nicht im Kreisgefängnis von Bergen verwahrt, sondern im Keller des

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