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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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eigenes Leben anzufangen, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Wir kamen an der Reiterin vorbei. Sie sah herablassend auf uns herunter, wie eben eine junge Frau auf einem Pferd auf zwei Männer mittleren Alters herabsieht die in roten Trainingsanzügen durch den Wald rennen.
    »Wie …« schnaufte ich. »Wie war deine Beziehung – zu Wenche? Kanntet ihr – euch gut?«
    Seine dunklen Augen unter den buschigen grauschwarzen Brauen schauten kurz zur Seite. »Wir waren gute Freunde«, sagte er. »Sie war eine gute Kollegin. Wir kannten uns – gut, ja.«
    Der Weg stürzte sich plötzlich in die Landschaft hinunter und bog nach links ab. Wir passierten eine Weide mit mehreren Pferden. Auf einem Zaun saßen zwei junge Leute und unterhielten sich, ein Junge und ein Mädchen, in dicken Isländerpullis und verschlissenen Jeans. Der Schotterweg war zu Ende, und wir liefen auf einem steinigen Waldpfad durch spärlichen Kiefernwald. Ein Stück weiter bogen wir nach links ab und kamen durch ein Moor, einen langen, matschigen Pfad hinauf. Er lief und lief. Ich spürte, wie meine Beine schwerer wurden und dass ich mehr Kraft brauchte, um mitzuhalten. Ich triefte vor Schweiß, aber ich spürte, dass es gut tat. Die lange Autofahrt und die missglückten Reinigungsprozeduren des vergangenen Tages (und der Nacht) begannen, durch die offenen, stöhnenden Poren herauszusickern, und der Körper entledigte sich des Mülls von gestern und all der Tage davor und machte sich bereit für neue, kommende Tage.
    Er sagte: »Wenche hat mich schon angezogen, seit ich sie zum ersten Mal sah. Sie hat etwas so Unschuldiges und Reines an sich, findest du nicht? Jungfräulich, mädchenhaft – etwas, das selbst die versteinerten Herzen von alten Böcken wie uns zum Schmelzen bringt, oder?«
    Ich war nicht so begeistert von der Schublade, in die er mich steckte, also antwortete ich nicht, sondern holte tief Luft und lief noch ein wenig schneller.
    Er sah mich erstaunt an. »Du ziehst an, Veum?« Er grinste. »Na gut – du wirst sehen, was du davon hast.«
    Er schien sich in der Luft nach vorn zu lehnen, und als fiele sein Körper nach vorn, erhöhte er das Tempo und seine Schrittlänge und zog davon. Der Weg führte noch immer bergauf. Wir hatten den Wald wieder verlassen. Auf beiden Seiten erstreckte sich Heideland, grauschwarze Heidebüsche, umgeben von welkem, gelblich blassem Moorgras und Felsengestein. Ich lief noch schneller, um ihn nicht zu verlieren und dachte, er ist besser in Form als du, aber verdammt noch mal, er muss auch fünfzehn Jahre älter sein.
    Ich schwor mir, dass er mir nicht davonlaufen würde. Ich hängte mich an ihn, fünf, sechs Meter hinter seiner breiten, athletischen Rückfront. Ich wurde nicht mehr schneller, aber ich holte auch nicht auf.
    Dann liefen wir plötzlich wieder auf einem Schotterweg, der unvermittelt steil abfiel und zu Asphalt wurde. Nach der nächsten Abzweigung waren wir wieder auf der Hauptstraße. Unterhalb der Straße breitete sich das gesamte Kasernengebiet vor uns aus. Es waren noch einige hundert Meter bis zum Tor, und er erhöhte noch einmal das Tempo, warf einen herausfordernden Blick nach hinten.
    Ich nahm die Herausforderung an und setzte zum Endspurt an. Langsam erhöhte ich mein Tempo, langsam wurde sein Vorsprung geringer. Ich hörte meinen eigenen schnaufenden Atem – und zu meiner Zufriedenheit, als ich nah genug herangekommen war, auch seinen. Fünfzig Meter vor dem Tor lagen wir Seite an Seite, wie zwei Traberpferde in der Zielgeraden. »Du läufst gut, Veum«, warf er mir herüber.
    »Du auch«, warf ich zurück, während schwarze Punkte vor meinen Augen tanzten.
    Wir lagen immer noch gleich, bei etwas schnellerem Tempo, aber keiner von uns schaffte es, sich loszureißen. Als wir am Pförtner vorbeikamen, machte ich ein schnelles Manöver, sprang über eine Bordsteinkante und überholte ihn überraschend. Das verschaffte mir einen Vorsprung von ein bis zwei Metern.
    Jetzt war ich vorn, und wie immer, wenn man als Erster läuft, war ich plötzlich ganz allein. Man hat alles hinter sich gelassen, alle Gegner, alle früheren Rennen, sein ganzes Leben, und ist allein im Universum, oben unter den Wolken. Man hat die Beine in den Wolken und den Kopf in den Sternen, und man läuft. Man läuft mit Füßen, die sich automatisch bewegen, mit einem leicht vornübergebeugten Körper, einem Atem, der immer heftiger wird, man ist ein Engel in einem himmlischen Streitwagen, man fegt alles beiseite, man

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