Dein bis in den Tod
bin schon verliebt. Glaube ich.«
Sie nickte. »Ich meinte auch nichts Bestimmtes. Aber du siehst aus wie ein netter Kerl, Veum. Wenn du dich jemals einsam fühlen solltest … Dann versuch’s bei der alten Solfrid Brede. Es ist nicht ganz sicher, aber vielleicht ist sie zu Hause. Ich kann dir erzählen …«
Sie wollte mir erzählen, aber zuerst musste sie ihr Glas wieder füllen. Und es musste noch einen Daumen breit mehr sein als beim letzten Mal. Es war ein langer, grauer Tag, und sie hatte noch nichts Besonderes vor. Sie bot mir auch noch einen an, aber ich hatte meinen ersten noch nicht einmal halb ausgetrunken.
Sie setzte sich und fuhr fort: »Ich habe einen Freund. Einen Liebhaber, würden wohl manche sagen. Ich habe ihn tatsächlich bald seit zehn Jahren, mit kleinen Unterbrechungen. Durch zwei Ehen hat er mich begleitet, und er hat sie beide überlebt – beide Ehemänner. Er ist – auch ein netter Kerl. Einer, mit dem man gern zusammen ist: warm und zärtlich im Bett, einer, mit dem du reden kannst, ohne eine Maske aufzusetzen. Aber ich möchte nie im Leben mit ihm verheiratet sein. Niemals!«
»Warum nicht?«
Sie sah vor sich hin, blickte in ihr Glas, trank einen Schluck. »Ich weiß es nicht genau. Vielleicht – vielleicht ist er zu gut, vielleicht hätte ich Angst, dass diese Ehe tatsächlich ein Leben lang halten würde.« Ihre Augen verdunkelten sich. »Und genau das weiß ich nicht, ob ich es ertragen könnte. Es müsste sein wie – wie auf eine Kreuzfahrt zu gehen und nie sicher zu sein, ob man wieder in den Hafen kommt. Außerdem ist er schon verheiratet.«
Ich nickte. Dann leerte ich mein Glas.
»Noch einen?«, fragte sie.
»Nein danke«, sagte ich. »Ich denke, ich muss – weiter.«
»Veum«, raunzte ihre Stimme mir vom Sofa aus zu.
»Ja?«
»Du siehst so nett aus … Könntest du dir vorstellen – bevor du gehst – zu mir herüberzukommen und – mir einen Kuss zu geben?«
Ich blieb sitzen und sah sie an. Obwohl sie nur eineinhalb Meter von mir entfernt saß, kam es mir unendlich schwer vor, aufzustehen, als sei es eine Wüstenwanderung bis zu ihr hinüber.
Sie sagte: »Auch wenn du – verliebt bist, in eine andere. Ein Kuss bedeutet nichts. Ein Kuss ist nur ein Kuss.«
Trotz ihrer vier Ehemänner und ihrem wunderbaren Liebhaber sah sie eigentümlich verloren aus, wie sie da auf dem Sofa saß und um einen Kuss bat. Vergessen.
Ich stand auf und ging zu ihr, stützte mich mit der einen Hand auf den Couchtisch und beugte mich zu ihr hinunter. Der Maiglöckchenduft wurde stärker. Die großen Brüste wallten unter mir wie friedliche Wellen an einem Sommerstrand. Ich legte eine Hand unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht und betrachtete es. Ehemänner waren mit Spikes darübergelaufen. Liebhaber hatten mit scharfen, frisch geschnittenen Nägeln ihre Spuren hineingeritzt. Männer hatten ihre Spuren auf diesem Gesicht hinterlassen, und es hatte sie aufgenommen. Es hatte dem Sturm getrotzt und zurückgespuckt. Und am Ende saß sie allein in einem Wohnzimmer, das für einen allein zu groß war, mit einem Gesicht, das für einen allein zu schwer zu tragen war, mit einem Glas, das man eigentlich nur zu zweit leeren konnte.
Ich hatte vorgehabt, ihr Gesicht zur Seite zu wenden und sie auf die Wange zu küssen, wie ein Sohn seine Mutter küsst. Aber ich küsste sie auf den Mund, langsam und lange, wie Menschen sich küssen, die sich viele Jahre geliebt haben: zuerst mit fast geschlossenem Mund, nippend; dann mit leicht geöffneten Lippen und einer vorsichtig suchenden Zungenspitze; dann mit weit offenem Mund und so hart, dass die Kiefer aneinanderschabten, als seien wir zwei Skelette in irgendeinem Grab, die sich in einer letzten, verzweifelten Umarmung aneinander klammerten; und ganz zum Schluss wieder mit geschlossenem Mund, die Lippen gespitzt, kleine, süße Abschiedsküsse zwischen zwei verliebten Teenagern, die sich auf einer Treppe in einer dämmrigen Gasse abends irgendwo in der Vergangenheit oder in der Zukunft verabschiedeten, irgendwo in den Erinnerungen, die wir mit uns tragen, irgendwo im Gepäck.
Sie klammerte sich an mich, mit heftigerem Atem, die Arme um meinen Hals und Nacken geschlungen. Ich beendete den Kuss und machte mich vorsichtig frei. Der Schaffner hatte zum letzten Mal gepfiffen, der Zug fuhr ab. Auf Wiedersehen, Geliebte, auf Wiedersehen … Ich hörte meine eigene Stimme heiser sagen: »Ein andermal – Solfried – irgendwann …«
Sie sagte: »Das ist dumm, es
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