Dein Blick so kalt
schien. Passend zu seiner Hochstimmung. Prickelnde Vorfreude machte sich in ihm breit. Das Spiel konnte in die nächste Runde gehen.
Jemand grüßte ihn. Er grüßte zurück.
Wieder in seiner Wohnung angekommen, schaltete er den PC an und sah sich nochmals die Aufnahmen vom Morgen an. Er war sich nicht sicher, ob sie seine Botschaft entdeckt hatte. Der Monitor war auf Quadfunktion eingestellt. Alle vier Kamerabilder wurden ihm gleichzeitig gezeigt. Er klickte auf das im linken oberen Feld, das den Flur zeigte, und zoomte eines der Bilder aus der Aufzeichnung heran. Gestern Nacht hatte sie sein kleines Geschenk nach ein paar Sekunden beiseitegelegt. Ein leichtes Zögern, ein kaum wahrnehmbares Frösteln, das vermutlich der regennassen Kleidung geschuldet war und nicht der Angst, die er so gerne in ihren Augen gesehen hätte. Sie hatte sein Geschenk einfach beiseitegelegt und war schlafen gegangen.
Doch heute Morgen hatte sie sich die Zeitungsseite noch mal genau angesehen. Er spulte vor, zoomte die Bilder heran. Ein leichtes Stirnrunzeln, bei dem eine Augenbraue sich streckte, zu einer analytischen Geraden wurde, während die andere skeptisch in die Höhe stieg. Er sah, wie sie überlegte, wer ihr das wohl unter der Tür durchgeschoben hatte und warum. Einen Moment lang stutzte sie, doch er konnte nicht erkennen, ob es daran lag, dass sie den Namen entdeckt hatte. Er zoomte ihr Gesicht näher heran, studierte die Bewegungen von Auge und Mund. Kein Zucken. Kein Zusammenziehen der Pupillen, kein erschrecktes Weiten der Augen. Sie wirkte weder verängstigt noch erschrocken oder beunruhigt. Sie war auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung und das ärgerte ihn. Dumme Kuh. Er hatte sie für klüger gehalten. Die Zeitung landete auf der Ablage, Lou griff zum Telefon und wählte.
Er schaltete den Monitor aus und lehnte sich zurück.
Verrückt. Total verrückt. Er war richtig zusammengezuckt, als sein Telefon zu klingeln begonnen hatte.
22
Lou fuhr in die Fußgängerzone, um sich bei H & M ein weißes T-Shirt zu kaufen, denn sie hatte ihr Lieblingsshirt glatt in Straubing vergessen. Nachdem sie das erledigt hatte, überlegte sie, was sie nun unternehmen sollte, und lief dabei am Stachus-Brunnen Mark und Bea über den Weg. Die beiden hatten für den Nachmittag eine Einladung zum Segeln. »Ein Freund von mir hat ein Boot am Ammersee. Also sein Vater. Willst du nicht mitkommen? Es gibt genug Platz«, meinte Mark.
Lou freute sich über die unerwartete Einladung und sagte spontan zu. Die beiden waren wirklich nett. Und sie kannten Lysander. Lous Herz schlug ein wenig schneller bei dem Gedanken an ihn. Sie musste nur schnell heimdüsen und ihre Badesachen holen, bevor sie mit der S-Bahn an den See fuhren.
Marks Freund Daniel war ein sympathischer Kerl. Biologiestudent mit trockenem Humor und außerdem ein guter Segler. Lou lag an Deck und genoss jede Sekunde dieses wunderschönen Sommertages, der wie im Traum verging. Der Himmel spiegelte sich in der ruhigen Wasseroberfläche. Am Horizont stand die Alpenkette wie gemalt. Weiße Wölkchen und weiße Segel überall. Die Sonne brannte herunter. Daniel warf in einer Bucht den Anker und alle sprangen zur Abkühlung ins Wasser und kletterten dann wieder über die Leiter an Bord. Das wiederholte sich mehrfach, bis sie schließlich erschöpft auf den Planken liegen blieben. Irgendwann verstrickte Lou Bea in ein Gespräch über den Abend an der Isar und erfuhr so einiges über Lysander. Er wohnte in Pasing, am anderen Ende der Stadt. Außerdem hatte seine Freundin kurz nach Weihnachten mit ihm Schluss gemacht. Er war also solo!
Ehe sie sich versahen, setzte die Abendflaute ein. Als es dämmrig wurde, holte Daniel den Anker ein, warf den Außenbordmotor an und ließ das Boot zurück an den Liegeplatz tuckern. Auf dem Steg machten sie sich über den Rest der Sandwiches her, die Bea angeschleppt hatte, und tranken Eistee.
Während der S-Bahn-Fahrt zurück in die Stadt schlief Lou beinahe ein. Sie war vom Schwimmen und von der Sonne völlig fertig. Mark und Bea wollten später noch in einen Klub auf der Praterinsel und fragten, ob sie mitkommen wolle. Lou winkte dankend ab. Sie musste jetzt erst einmal eine Runde schlafen und außerdem ihr Geld zusammenhalten. Party war heute nicht mehr drin.
Am Sonntag schlief sie bis Mittag, raffte sich dann auf und ging endlich in den Waschsalon. Sonst hatte sie für die kommende Woche keine sauberen Klamotten. Außer dem neuen T-Shirt.
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