Dein Blick so kalt
Schwankend hielt sie sich an ihm fest und hob schmunzelnd den Zeigefinger. »Normal vertrag ich was.«
»Was du jetzt vertragen könntest, ist ein wenig Sauerstoff. Komm, ich geh mit dir auf den Balkon.« Er bugsierte sie zur Tür, die hinausführte, und schaltete im Vorübergehen das Licht aus.
»Ups. Warum machst du es ganz dunkel?«
»Sonst kommen die Mücken scharenweise rein und fressen dich auf.«
Sie gab ihm einen Stups auf die Nase. »Du bist wirklich lieb.«
Eine Weile standen sie so auf dem dunklen Balkon. Unter ihnen flirrten die Lichter der Stadt in dieser warmen Sommernacht. Eine leichte Brise wehte weit entfernte Musik herüber. Das Brausen des Verkehrs klang nur gedämpft nach oben zu ihnen, wie sie da so standen zwischen Himmel und Erde. Oben die Sterne und die Sichel des Mondes. Sechzehn Stockwerke weiter unten erstreckte sich der gepflasterte Vorplatz des Hauses. Chantal lehnte an der Brüstung und atmete mit geschlossenen Augen in tiefen Zügen die laue Luft ein.
Es ging ganz leicht. Er bückte sich, packte ihre Beine, riss sie nach oben, und ehe er sich versah, war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Nur ihren Schrei, den konnte er hören. Nicht lange. Eine Sekunde. Vielleicht auch zwei.
Er ging hinein, ließ die Tür angelehnt, griff sich ihr Handy und ging damit aufs Klo. Dort machte er Licht an und schrieb Mike eine SMS. Ich kann einfach nicht ohne dich leben. Vergib mir.
Bevor er ging, spülte er sein Glas und räumte es in den Schrank. Ihres schwenkte er mit Champagner aus, bis die Flasche geleert und auch das letzte Molekül der Tabletten im Ausguss verschwunden war.
Das Haus verließ er durch den Hinterausgang, denn vorne zuckten bereits die Blaulichter.
64
Die Banderole glitt ihr aus den Fingern und fiel auf den Boden. Zum mindestens zwanzigsten Mal. Lou kletterte nicht wie die neunzehn Mal davor vom Tank herunter, um sie aufzuheben und es erneut zu versuchen. Sie konnte nicht mehr. Ihr Kopf dröhnte vor Schmerzen. Ihr Mund schien mit Sand gefüllt, genau wie ihre Nase. Ihre Lippen waren rissig und aufgeplatzt. Sie fuhr mit der Zunge darüber. Auch sie war ganz ausgetrocknet, wie alle Schleimhäute, wie ihr ganzer Körper. Sogar die Augen brannten und ihr Blut floss sicher zäh und klumpig durch die Adern.
Mutlosigkeit breitete sich in ihr aus und lähmte sie. Etwas in ihr war so weit aufzugeben. Sie kauerte sich auf dem Öltank zusammen. Jetzt hätte sie gerne geheult. Aber es kamen keine Tränen.
Es ging nicht. Es klappte einfach nicht. Sie schaffte es nicht, die Banderole über die Kamera zu schieben. Zuerst hatte sie es vom Boden aus versucht. Sie hatte sich gereckt und gestreckt, sich so lang gemacht, wie sie nur konnte, und war dabei auf Zehenspitzen balanciert wie eine Primaballerina. Doch es fehlten einfach zwei oder drei Zentimeter. Anschließend war sie auf den Tank geklettert, der dem Reptilienauge am nächsten war. Nur etwa anderthalb Meter entfernt. Das musste klappen. Irgendwie. Doch sosehr sie sich auch verrenkte, sie schaffte es nicht. Sie erreichte das Auge nicht einmal mit den Fingerspitzen. Das Einzige, was ihr gelang, war, ins Schwitzen zu geraten. Ihr Körper hatte wertvolle Tropfen Flüssigkeit verloren und nun war der Durst quälender als je zuvor.
Nun drängten doch Tränen hervor. Schluchzend vergrub sie den Kopf in den Armen. Mit den Fingern wischte sie die Rinnsale weg, leckte sie auf. Sie schmeckten total salzig. Doch das bisschen Feuchtigkeit weckte die Gier. Wasser. Bitte! Wasser! Ihr Gehirn produzierte wieder Spukbilder. Beschlagene Gläser. Flaschen mit Eistee. Ein Becher Saft. Sie wollte danach greifen und fasste stöhnend ins Leere.
Wie ein Embryo rollte sich auf dem Tank zusammen. Sie würde hier sterben, wenn Mister Arschloch ihr nicht endlich etwas zu trinken brachte. Sie musste ihn darum anflehen. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Das war ihre einzige Chance.
Eine Weile blieb sie noch liegen, sammelte sich. Auch wenn sich alles in ihr sträubte zu tun, was er erwartete. Sie wollte nicht sterben.
65
Lysander hatte kaum geschlafen. Er saß am Küchentisch und starrte in den Innenhof hinunter. Langsam wurde es hell. Seine Mutter schlief noch und sein Vater war von der Vortragsreise noch nicht zurückgekehrt. Niemand, mit dem er reden konnte. Wollte er überhaupt reden? Wenn er diese Angst, die sich in ihm auftürmte, in Worte fasste, würde sie womöglich auf ihn einstürzen und ihn unter sich begraben.
Er musste etwas tun.
Die
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