Dein Blick so kalt
Hastig zog sie an der Zigarette und begrüßte den dicken Mann von der 24-Stunden-Rohrreinigung. Lysander schien für sie Luft zu sein.
Der Handwerker schob die Hände in die Hosentaschen. »Endlich? Fliegen kann ich nicht. Wo ist es denn nun, das defekte Wasserrohr?«
Postwendend steckte die Hausmeisterin sich die Zigarette zwischen die Lippen, griff hinter sich und nahm einen Bund mit unzähligen Schlüsseln vom Bord an der Wand. »Im Waschkeller«, nuschelte sie, während sie sich an Lysander vorbeidrängte. »Ein Haupthahn ist seit einer Stunde abgedreht. Die Mieter beschweren sich schon. Kommen Sie.«
»Ist Ben denn da?«, hakte Lysander nach.
Ein kurzer Blick über die Schulter. »Er sitzt beim Frühstück.« Damit verschwand die Hausmeisterin Richtung Treppenhaus.
Die Tür zur Wohnung stand noch offen. Also trat Lysander ein und sah sich um. Es roch nach Rauch und Kaffee. In der Küche war niemand. Aus dem Wohnzimmer klang der Fernseher. Ben Pagel saß auf dem Sofa, das Frühstück vor sich auf dem Couchtisch und sah im Kinderkanal einen Zeichentrickfilm.
»Hi Ben.«
Der Kopf schnellte herum. Ein überraschter Blick. Ben Pagel sah tatsächlich aus wie ein Grottenolm. Bleiche Haut, wässrig blaue, wimpernlose Augen, die zu weit auseinanderstanden. Rundes Gesicht. Das weißblonde Haar war flusig und lag wirr um seinen Kopf. Ben war einige Jahre älter als Lysander und guckte Kinderstunde. Normal war das nicht.
»Sollte ich dich kennen?«
»Ich bin Lysander. Lous Freund.«
Mit einem Schluck Kaffee spülte Ben einen Bissen hinunter und musterte währenddessen Lysander misstrauisch.
»Lou Meerbusch. Du hast die Jalousie in ihrer Wohnung repariert und einen defekten Brauseschlauch ausgewechselt.«
»Ich weiß schon, wen du meinst. Das Mädchen, das vermisst wird.«
»Jemand muss einen Schlüssel für ihre Wohnung haben und auch einen zur Wohnung ihres Onkels.«
»Die Bullen haben schon danach gefragt. Wir haben keine Schlüssel. Und auch sonst niemand. Gibt keine weiteren.«
»Aber ein Vormieter hat einen nachmachen lassen, weil er glaubte, er hätte den Zweitschlüssel verloren…«
»Ja? Und?«
»Der ist weg. Dr. Bergmaier hat ihn nie erhalten.«
Wieselflink schnellte Ben Pagel vom Sofa hoch und baute sich vor Lysander auf. Seine Augen wurden zu Strichen. »Was willst du damit sagen?« Im Fernseher raste eine Lokomotive mit ohrenbetäubendem Lärm auf einen Tunnel zu. Lysander griff sich die Fernbedienung und schaltete den Ton ab. Plötzlich war es still. »Nichts. Ich frage mich einfach, wer den Schlüssel haben könnte. Das ist alles.«
»Dann frag den Typen von der Hausverwaltung.«
»Welche Hausverwaltung und wie heißt der Verwalter?«
»Traber-Immobilien in der Ludwigstraße. Zuständig ist Herr Bär. Er wird dir das bestätigen. Ich war nämlich selbst dabei, als meine Mutter ihm die Schlüssel gegeben hat.«
»Okay. Danke.« Mit so viel Entgegenkommen hatte Lysander nicht gerechnet. Ben ließ sich aufs Sofa fallen und schaltete den Ton wieder an. Lysander war schon bei der Tür, als Ben ihm noch etwas nachrief. »Der Bär wohnt hier in der Anlage. In Haus zwei. Vierte Etage. Der hat grad Urlaub und hängt hier ständig irgendwo rum.«
67
Wenigstens das war gut gelaufen. Chantal konnte nicht mehr quatschen. Und die Polizei war gar nicht auf die Idee gekommen, sie könnte nicht freiwillig gesprungen sein. Alles lief wie geplant. Er klickte die Nachrichtenseite weg. Doch so richtig konnte er sich nicht freuen. Und dafür gab es zwei Gründe. Der eine war Lou. Ein Fehlgriff. Ein echter Griff ins Klo. Dieses widerspenstige Mädchen. Es hatte nur Ärger gemacht. All der Aufwand für nichts. Gnädig hatte sie ihm ein paar Brosamen vor die Füße geworfen. Zu wenig, um sie genießen zu können. So gut wie nichts. Bis auf ein paar Sekunden herrlicher Angst, einen wunderbaren hysterischen Ausraster, als sie sich die Spinnen eingebildet hatte und dann gestern Nacht ihr flehentliches Bitten um Wasser. Das hatte ihn beinahe mit ihr versöhnt. Nur für einen Moment. Denn als er sein Fazit zog, war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sie sich über ihn lustig machte und die Oberhand behielt. Dieses verdammte Mädchen. Wie machte sie das? Dabei war sie in seiner Hand! Er hatte die Macht. Er bestimmte, was mit ihr geschah. Schließlich war er ihrer flehentlichen Bitte gefolgt und hatte ihr etwas zu trinken gebracht. Damit war die Sache beendet. Sie war seit Stunden tot. Das Gift wirkte schnell.
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