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Dein Blut auf meinen Lippen

Dein Blut auf meinen Lippen

Titel: Dein Blut auf meinen Lippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gabe
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dass die Gefahr ihres Abgleitens in den Wahnsinn des Vampirismus in dem Moment gebannt sein würde, wenn sie Romeo im Kloster wiedersah, in der Zelle von Bruder Lorenzo. Es war Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen! Noch einmal atmete sie tief durch, ehe sie in ihre Rocktasche griff und den Flakon mit der Tinktur des Mönchs herausholte. Sie fürchtete sich davor, sie zu schlucken. Aber dann dachte sie an ihr zukünftiges Leben mit Romeo und die Chance, wieder zu einem richtigen Menschen zu werden, und ihre Angst verflog.
    Voller Zuversicht hob sie den Flakon an und sagte: "Auf dein Wohl, Romeo! Ich komme!" Anschließend kippte sie den Inhalt in einem Zug hinunter. Kaum hatte sie geschluckt, merkte sie schon, wie die Wirkung einsetzte. Ihr sackten so schnell die Beine weg, dass sie unkontrolliert aufs Bett fiel. Sie konnte nicht einmal mehr die Arme unter dem Rücken wegziehen, und ihr Kopf fiel schlaff zur Seite.
    Im nächsten Moment fühlte sich ihr ganzer Körper völlig taub an; sie konnte sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Aber sie hörte die Fensterläden im Wind schlagen und sah die Flamme der Öllampe flackern. Sie konnte auch noch denken und zählte die Minuten, bis sie Romeo endlich wieder küssen konnte.
    Erst als es am nächsten Tag wieder dunkel wurde, entdeckte die Amme ihren Schützling: Sie fand Julia in ihrer Kammer mit offenen Augen und augenscheinlich tot auf dem Bett liegen. Zu diesem Zeitpunkt waren etwa achtzehn Stunden vergangen, seit Julia die Tinktur getrunken hatte. Die Amme hatte gerade die Kammertür mit einer Axt eingeschlagen, nachdem es ihr unmöglich gewesen war, sich anders Zutritt zu verschaffen, und Julia auf ihr Rufen nicht reagiert hatte.
    "Um Gottes willen! Nein!", schrie sie, brach auf dem Fußboden zusammen und umklammerte Julias leblose Beine. "Was hast du dir nur angetan, mein Kind?"
    Julia starrte reglos vor sich hin und hörte die Amme schluchzen. Jedes Mal, wenn sie Luft holen musste, schrie sie: "Nein!", als ob ihre Proteste Julia wieder lebendig machen könnten.
    "Bitte, gütiger Gott", murmelte die Amme schließlich. "Nimm Julia, dieses wunderbare Geschöpf, in deinem Reich auf. Ich habe sie aufgezogen und geliebt, als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut, und ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben soll."
    Als Julia die Amme so aufgelöst erlebte, wurden tausend Erinnerungen in ihr wach, lauter Momente voller Zärtlichkeit - ihre gemeinsamen Sommerspaziergänge in den ausgedehnten Schlossgärten, die köstlichen Kuchen, die sie in der Küche zusammenrührten, die ledergebundenen Bücher, die sie im Winter am warmen Kamin lasen. Das Entsetzen und die Trauer der Amme berührten sie so sehr, dass sie wünschte, sie könnte ihren tranceähnlichen Zustand beenden und die Gute umarmen.
    Sie wusste aber, dass es noch Stunden dauern würde, bis sie auch nur einen Finger krümmen konnte.
    Zur Untätigkeit verdammt, konnte sie umso besser hören, und über das verzweifelte Gestammel der Amme hinweg vernahm sie Geräusche im Korridor vor ihren Gemächern. Türen gingen auf und zu, verschlafene Stimmen wurden laut, unter ihnen auch die ihrer Mutter. Plötzlich war sie ganz nah. Offenbar hatte die Gräfin das Geschrei der Amme gehört, denn sie schien höchst alarmiert zu sein. Sie kam ans Bett geschwebt, kniete nieder und legte Julia eine Hand auf die Stirn.
    "Nun red schon, Amme! Was ist passiert? Ist Julia auf der Jagd von jemandem erwischt worden? Ist sie verletzt?"
    "Ach, Herrin, sie ist tot", schluchzte die Amme.
    Julia sah, dass ihre Mutter ihr tief in die Augen schaute und nach einem Lebenszeichen suchte. Anscheinend war keins zu entdecken, und ihre Mutter schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund und vergrub das Gesicht im Haar der Tochter.
    "Mein geliebtes Kind!", stieß sie hervor, aber es klang sehr leise, weil die Bettdecke, auf der Julia lag, ihre Stimme dämpfte. "Das kann doch nicht wahr sein! Du bist nicht tot! Ich kann es nicht glauben!"
    Obwohl Julia noch nicht wieder klar denken konnte, bekam sie es mit der Angst zu tun. War es möglich, dass ihre Mutter die Wahrheit ahnte? Dass sie es irgendwie spürte - ihre Tochter würde wieder aufwachen, sobald die Wirkung der Droge nachließ, die sie wie tot daliegen ließ, und danach wieder ein ganz normaler Mensch sein?
    Schon eine Nacht und einen Tag lang hatte Julia sich immer wieder gefragt, wie ihre Mutter wohl reagieren würde, wenn sie die Tochter vermeintlich tot vorfand. Julia hatte sich

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