Dein Blut auf meinen Lippen
nicht vorstellen können, dass ihre Mutter auch nur eine Träne vergießen würde. Aber als es nun so weit war, erlebte sie ihre Mutter, die standesbewussteste und hartherzigste Vampirfrau, die sie kannte, völlig verzweifelt.
Julia versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, und bekam Mitleid. Ihre Haut war noch rissiger geworden - ein deutliches Zeichen dafür, dass sie immer schwächer wurde. Verlor sie vielleicht sogar schon ihre magischen Kräfte? Das wäre eine Katastrophe für sie! Oder war die Trauer um die vermeintlich tote Tochter so groß, dass übermenschliche Fähigkeiten, Reichtum, Prestige und die Herrschaft der Vampire ihr plötzlich nicht mehr alles bedeuteten?
Die Amme stand umständlich vom Boden auf, wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. Dann ging sie um das Bett herum auf die Gräfin zu. "Es tut mir unendlich leid, Herrin, aber es ist wahr. Julia ist nicht mehr von dieser Welt."
Die Gräfin richtete sich ruckartig auf, weigerte sich jedoch, Julia loszulassen, und hielt eine Hand ihrer Tochter fest umklammert. "Ich hätte nie gedacht, dass mir jemand so das Herz brechen könnte", sagte sie mit erstickter Stimme.
Plötzlich erscholl von der Kammertür her eine donnernde Stimme: "Was geht hier vor? Kann man in diesem Haus nicht mal mehr schlafen? Euer Gejammer weckt ja Tote auf!"
Julia erkannte die Stimme sofort: Es war die ihres Vaters.
"Die ganze Welt hat sich gegen uns verschworen, mein Gemahl!", schluchzte Julias Mutter. "Sie hat uns die Tochter genommen."
Aus dem Augenwinkel sah Julia ihren Vater auf ihr Bett zukommen. Der Blick, mit dem er sie musterte, war kalt wie Eis. Im Gegensatz zu seiner Frau konnte Julias Anblick ihn offenbar nicht erweichen.
"Unsinn, Weib!", schimpfte er. "Julia hat sich selbst das Leben genommen. Sie hat ihre Drohung wahr gemacht und das Verwandlungsritual verweigert. Damit hat sie das Schicksal herausgefordert. Der Tod ist ihre gerechte Strafe."
"Man soll von den Toten nicht schlecht sprechen, mein Herr", sagte die Amme und verbeugte sich schnell, weil sie wusste, dass sie ihren Gebieter nicht kritisieren durfte. Prompt ließ er die Fangzähne aufblitzen und knurrte mordlüstern.
"Wir hätten sie in dieser schweren Zeit nicht allein lassen dürfen", murmelte die Gräfin. "Sie war doch noch so jung, und sie hatte so viel Angst."
"Ach was! Sie hat uns einfach nur im Stich gelassen", hörte Julia ihren Vater wüten. "Sie wusste ganz genau, wie wichtig es für uns ist, Graf Paris zu unserem Verbündeten zu machen. Jetzt verlieren wir vielleicht alles, wofür wir so hart gekämpft haben."
Julia sah, wie sich die Gesichtszüge der Gräfin verhärteten, als sie sich bereit machte, ihrem Gatten Paroli zu bieten. Zum ersten Mal im Leben fürchtete Julia die Entschlossenheit ihrer Mutter nicht.
"Wir hätten ihr beistehen sollen", erklärte die Gräfin in scharfem Ton. "Stattdessen haben wir all ihre Hilferufe ignoriert. Als sie uns anflehte, sie nicht in eine ungewollte Ehe zu drängen, haben wir nur an uns gedacht und sind hart geblieben. Als sie uns sagte, dass sie sich nicht in der Lage fühlt, einen Menschen zu töten, haben wir sie nicht ernst genommen. Jetzt siehst du, was wir damit angerichtet haben."
"Wir hatten keine andere Wahl, schon gar nicht in Bezug auf Graf Paris. Wir mussten an unser Volk denken!", schrie Julias Vater. "Auch an dem Verwandlungsritual führte kein Weg vorbei. Jeder Vampir muss damit irgendwie fertigwerden."
"Das ist nicht wahr. Du weißt ganz genau, dass es die Möglichkeit der Rückverwandlung gibt." Julias Mutter war so erbost, dass sie auf den Grafen zuschritt und ihn mit beiden Händen nach hinten stieß.
"Unsinn! Ich habe dir schon mal gesagt, dass es nichts als ein dummes Gerücht ist."
Julias Mutter verdrehte die Augen und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. "Trotzdem hätten wir es versuchen können. Stattdessen haben wir nur an unseren Machterhalt gedacht."
Für Julia war es wie ein Schlag ins Gesicht. Wenn ihre Eltern die ganze Zeit über gewusst hatten, dass es eine Chance gab, sie vor ihrem grausamen Schicksal zu bewahren, und sei sie noch so minimal, warum hatten sie dann nie etwas davon gesagt? Würde sie ihnen das je verzeihen können?
"Ganz recht", entgegnete Graf Capulet. "Denn das ist unsere Pflicht. Ohne unsere besonderen Kräfte können wir weder die Menschen bekämpfen noch unseren Besitzstand wahren. Wenn uns alles genommen wird, was wir über Generationen erworben haben, und wir unseren
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