Dein Blut auf meinen Lippen
Kristallvasen mit roten Chrysanthemen und gelben Lilien aufgestellt worden. Die Capulets scheuten keine Kosten für die Hochzeit der einzigen Tochter, und unter anderen Umständen hätte Julia an alledem großen Gefallen gefunden.
Gräfin Capulet stand oben an der Treppe und überwachte die Arbeit der eigens für diesen Tag angeheuerten Hilfskräfte, die purpurrote Stoffbahnen um die Marmorsäulen drapierten.
"Aufhören!", schrie sie. "Sofort aufhören! Das Ganze soll elegant wirken - nicht protzig!"
Julia fuhr mit den Fingerspitzen am Treppengeländer entlang, als sie hinaufschwebte, und ging in Gedanken noch einmal den Plan durch, den sie zusammen mit Bruder Lorenzo im Kloster geschmiedet hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihr die Gräfin den Gesinnungswechsel abnehmen würde, denn ihre Zukunft mit Romeo hing davon ab.
Andererseits kam es ihr furchtbar egoistisch vor, ihre Mutter so zu hintergehen und ihr so einen Schrecken einzujagen, zumal sie immer noch ziemlich krank aussah. War es wirklich fair, die gemeinsame Zukunft mit Romeo über das Wohlergehen der eigenen Familie zu stellen? Hätte jemand Julia diese Frage vor einer Stunde im Kloster gestellt, hätte sie ja gesagt, aber nun, in der einschüchternden Gegenwart ihrer Mutter, war sie sich der Antwort nicht mehr so sicher.
Julia glättete ihren Rock, als sie die oberste Treppenstufe erreicht hatte, und begrüßte die Gräfin. "Guten Abend, Mutter."
Die Angesprochene nickte nur kurz mit dem Kopf, ohne den lauernden Blick von dem geschäftigen Hin und Her in der Großen Halle abzuwenden.
"Ich möchte mich für mein heutiges Benehmen entschuldigen", fuhr Julia fort und versuchte einen Ton anzuschlagen, der ihre Mutter milde stimmte. "Ich war sehr unhöflich zu dir und habe den nötigen Respekt vermissen lassen. Du und Vater habt mir alles gegeben, was man sich nur wünschen kann. Da sollte es selbstverständlich sein, dass ich mich nun nach euren Wünschen richte."
Gräfin Capulet legte die Hände an die Wespentaille und sah Julia überrascht an. "Bist du also endlich zur Besinnung gekommen? Oder überlegst du es dir noch einmal und präsentierst mir in drei Minuten die nächste Unverschämtheit?"
Julia ärgerte sich so sehr über den Ton ihrer Mutter, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht aus der Rolle zu fallen. Doch als sie die Hand in die Rocktasche führte und den kleinen Flakon berührte, wurde sie ruhiger.
"Es tut mir sehr leid, Mutter", sagte sie demütig. "Ich sehe ein, dass ich mich falsch verhalten habe, und ich möchte dich und Vater nicht noch mehr verärgern oder enttäuschen."
Die Gräfin verharrte in ihrer strengen Pose, aber Julia sah, dass die Züge ihres immer mehr zerfallenden Gesichts weicher wurden.
"Einer Capulet würdig zu sein und unseren Besitzstand zu wahren, ist mir das Allerwichtigste." Julia hatte das Gefühl, an so viel Unaufrichtigkeit ersticken zu müssen. Jedes Mal, wenn sie sich für etwas entschuldigte, das sie in Wahrheit für richtig hielt, oder falsche Bekenntnisse von sich gab, schämte sie sich fürchterlich. Aber sie zwang sich weiterzumachen und sagte sich immer wieder, dass sie durchhalten musste, wenn sie in circa vierundzwanzig Stunden wieder ein ganz normaler Mensch sein und vor allem an Romeos Seite leben wollte.
Deswegen erklärte sie: "Ich werde heute Nacht das Verwandlungsritual vollziehen, und morgen heirate ich dann Graf Paris."
"Ich bin froh, dass du wieder zu Verstand gekommen bist." Die Gräfin nahm Julias freie Hand und drückte sie.
"Ich auch, Mutter", erwiderte Julia mit gesenktem Blick.
"Dein Vater hat dir ja bereits die Waffen bringen lassen, die du brauchst. Nun beeile dich! Dir bleibt nur noch eine Stunde für die Jagd." Die Gräfin sprach diese Dinge mit einer Selbstverständlichkeit aus, die Julia kalte Schauer über den Rücken schickte. "Unsere Wachen können dir Hinweise darauf geben, wo du diesen Romeo Montague finden kannst. Hole also ihren Rat ein, ehe du losziehst. Mehr Hilfe darfst du aber nicht in Anspruch nehmen. Bei dem Verwandlungsritual geht es darum, dass du dich deinem Schicksal rückhaltlos ergibst, und das musst du ganz für dich allein tun."
"Ich verstehe", sagte Julia und musste schlucken, weil ihr Hals plötzlich ganz eng und trocken wurde.
Ihre Mutter gab ihr letzte Anweisungen. "Die Tradition verlangt, dass wir uns erst wiedersehen, wenn du ein vollwertiger Vampir geworden bist. Ich werde dich also morgen Abend bei Sonnenuntergang in deiner
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