Dein Blut auf meinen Lippen
Stolz verlieren, wird die Unsterblichkeit zum Fluch. Wenn es wirklich so weit kommt, kannst du dich … Ach was! Dann kann sich unsere ganze Rasse bei deiner Tochter und ihrem melodramatischen Abgang dafür bedanken."
"Melodramatischer Abgang?" Die Gräfin verpasste ihrem Mann eine schallende Ohrfeige. "Sie ist tot!"
Graf Capulet verzog keine Miene. "Dann fang schon mal an, die Trauerfeier vorzubereiten. Ich gehe zu Graf Paris und versuche, es ihm schonend beizubringen."
Damit verließ er Julias Kammer, ohne auch nur eine Träne für seine einzige Tochter vergossen zu haben.
Kurz hinter der moldawischen Grenze kroch Romeo durch ein matschiges Feld und betete, dass die Grenzsoldaten, die in wenigen hundert Metern patrouillierten, seine Flucht nicht bemerkten. Wie eine Schlange wand er sich durch regennasse Gräser und hielt den Kopf so niedrig wie möglich. Um wieder auf walachisches Territorium zu kommen, musste er nur noch dieses Feld durchqueren und den unwegsamen Pfad wiederfinden, auf dem er tags zuvor in moldawisches Hoheitsgebiet eingedrungen war. Der Weg mündete in eine unbefestigte Straße, die durch die Berge der Karpaten und schließlich in seinen Heimatort führte - und zu seiner großen Liebe.
Arme und Beine taten ihm weh, weil er sich - in einer unnatürlichen Körperhaltung - kriechend über den aufgeweichten Boden fortbewegte, und seine Hände, mit denen er abwechselnd einen Beutel aus Sackleinen hinter sich her schleifte, waren inzwischen ganz verkrampft. Doch als er die hohen Fichten sah, die das Feld begrenzten und den Eingang zu dem schmalen Pfad markierten, fühlte er sich gleich viel besser. Als er die Bäume erreichte, versteckte er sich zwischen ihnen und öffnete den Beutel. Er zog seine verschmutzten Kleider aus und legte die sauberen Sachen an, die Benvolio ihm gebracht hatte. Sie waren Romeo, der eine schlanke Figur hatte, zwar viel zu weit, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er würde sich ohnehin einen langen schwarzen Kapuzenumhang überwerfen, um unerkannt zu bleiben, wenn er die Walachei durchstreifte.
Bevor er den Umhang anzog, steckte er sich eine Flasche Weihwasser in die rechte Hosentasche. Sollte ein wütender Capulet ihn angreifen, brauchte er davon nur einige Tropfen zu verspritzen, um dem Vampir die Haut zu verbrennen und ihn in die Flucht zu schlagen. Allerdings hoffte er, dass es dazu nicht kommen würde, denn in den letzten Tagen hatte er schon viel zu viel Grausamkeit erlebt.
Gegen neun Uhr abends hatte er die Grenze zur Walachei hinter sich gelassen und schlug den Weg zu einer Gastwirtschaft im Zentrum der kleinen Stadt ein. Dort fand er einen freien Ecktisch, an dem er für sich allein sein konnte, und nahm Platz. Seine Kapuze ließ er auf und zog sie tief in die Stirn. Bis jetzt hatten ihn weder die Einheimischen noch die Soldaten des Fürsten erkannt, die an ihm vorbeigeritten waren, und dafür war er dankbar.
Als der Wirt ihm ein frisch gezapftes Bier gebracht hatte und er langsam davon trank, schaute er sich unauffällig nach jemandem um, der ihm vielleicht helfen könnte - etwa Julias Amme oder Maribel, die Dienerin, die Benvolio, Mercutio und ihm am Abend des großen Balls Zugang zum Schloss der Capulets verschafft hatte. Er wusste, dass die Dienerschaft des Schlosses oft in diesem Wirtshaus verkehrte, und er hoffte, dass eine der beiden Frauen, die ihm freundlich gesinnt waren, an diesem Abend herkäme. Zwei Minuten würden genügen, um ihnen eine Nachricht für Julia zu übergeben.
Allerdings war ihm immer noch nicht recht klar, wie diese Nachricht lauten sollte. Julia und er hatten einander versprochen, dass sie Transsilvanien zusammen verlassen und nie mehr hierher zurückkehren würden. Aber würde sie dieses Versprechen einhalten können? Und worin bestand das Geheimnis ihres Verwandlungsrituals, vor dem sie so schreckliche Angst hatte? Inzwischen musste sie es vollzogen haben, und Romeo war sich ganz sicher, dass seine Liebe zu ihr groß genug war, um ihr zu verzeihen, was immer sie getan hatte.
Zumindest hoffte er das.
Er nahm einen großen Zug aus dem Bierkrug und schluckte die Flüssigkeit entschlossen hinunter. Die Augen fest auf die Wirtshaustür gerichtet versuchte er, die negativen Gedanken aus seinem Bewusstsein zu verbannen.
Auf einmal rissen zwei Soldaten aus Fürst Radus Armee die Tür auf und betraten den Schankraum, die Schilde lässig unter den Arm geklemmt. Romeo merkte, dass ihm plötzlich eiskalt wurde. Er senkte den
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