Dein Blut auf meinen Lippen
Sie trug das herrliche weiße Seidenkleid, das von der Amme auf dem Bett zurechtgelegt worden war, kurz bevor die beiden Frauen ihr letztes Gespräch miteinander geführt hatten. Da man Julia zu Beginn der Zeremonie die Augen geschlossen hatte, konnte sie nur noch hören.
Und sie hatte während der Trauerfeier eine ganze Menge zu hören bekommen. Ihre Mutter und ihre Amme waren untröstlich und hatten die ganze Zeit geweint, während ihr Vater sie mehr als ein Mal verflucht hatte. Was sie jedoch am meisten beeindruckt hatte, war das Geflüster der anderen Vampire, die gekommen waren, um ihr die letzte Ehre zu erweisen.
"Man kann sie nur für ihre Willenskraft bewundern", hatte ein Adliger gesagt.
"Meine Bewunderung hält sich in Grenzen", hatte eine Frau erwidert. "Mir wäre lieber gewesen, sie hätte Graf Paris geheiratet. Ich bezweifle, dass er sich unter diesen Umständen noch bei Fürst Radu für uns einsetzen kann oder will."
Julia wusste, dass die Frau recht hatte. Der Graf war über den Selbstmord seiner Braut so erbost, dass er die Trauerfeier vorzeitig verlassen hatte. Doch sosehr es sie auch schmerzte, dass ihr Verhalten für die anderen Konsequenzen hatte, glaubte sie nicht, dass sie irgendetwas anders machen würde, wenn sie die letzten vierundzwanzig Stunden noch einmal durchleben müsste. Was sie getan hatte, war aus Liebe geschehen. Und diese Liebe war so groß, dass kein Capulet - nicht einmal ihre reumütige Mutter - es je verstehen würde.
Julia hing noch ihren Gedanken nach, als sie Schritte hörte, die in dem großen Gewölbe dumpf von den Wänden widerhallten. Sie wusste sofort, dass es Romeo war, der kam, um sie zu holen, wie Bruder Lorenzo es versprochen hatte. Sie wünschte nichts mehr, als sich bewegen und Romeo ein Zeichen geben zu können, dass sie lebte - oder, besser noch, aufzuwachen und dem Geliebten entgegenzueilen. Ihr Zustand wurde ihr unerträglich.
Die Schritte kamen näher, und Julia dachte an das Leben, das sie an Romeos Seite führen würde, sobald Bruder Lorenzo sie in einen Menschen zurückverwandelt hatte. Dann würde sie endlich wieder sie selbst sein - eine ganz normale, lebensfrohe junge Frau. Sie würden Kinder bekommen und zusammen alt werden, ein Haus mit Kamin bauen und einen Blumengarten anlegen, irgendwo in einer sanften Hügellandschaft weit fort von Transsilvanien. An langen Winterabenden würden sie einander vorlesen und dann im Bett eng umschlungen einschlafen. Für Julia gab es nichts Schöneres als diese Vorstellung, und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie Wirklichkeit werden konnte.
Jeden Moment musste es so weit sein.
Die Schritte kamen kurz vor ihrem Grab zum Stillstand. Einen Moment lang blieb es ganz ruhig. Voller Erwartung klopfte Julias Herz schneller. Doch dann zerriss ein Schrei des Entsetzens die Stille - ein Schrei, den sie von ihrem Vater vergeblich zu hören gehofft hatte, denn selbst bei der Trauerfeier hatte er sich vom Tod der einzigen Tochter nicht bewegt gezeigt.
Der Schrei mündete in lautes Schluchzen, und Julia bekam es mit der Angst zu tun. Denn was sie da hörte, klang nicht mehr nach ihrem Romeo. Er wäre voller Freude an ihr Grab getreten, denn inzwischen musste er längst davon unterrichtet sein, dass sie schon in wenigen Stunden frei und für den Rest ihres Lebens zusammen sein würden. Sollte es ihr Vater sein, der endlich zur Besinnung gekommen war? Doch dann verebbte das Schluchzen, und als Nächstes drang die Stimme an ihr Ohr, auf die sie eine Nacht und einen Tag lang gewartet hatte.
"Julia, Liebste, was hast du getan?"
Es war Romeo, keine Frage.
"Warum hast du nicht auf mich gewartet?"
Julia war völlig verwirrt. Sie hatte sich doch nur in Sicherheit bringen wollen, solange sie auf ihn wartete, so wie Bruder Lorenzo es vorgeschlagen hatte. Sie versuchte, die Lippen zu bewegen und Romeo zu antworten, aber sie war noch von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln gelähmt.
"O Gott, ich ertrage das nicht! Meine Gemahlin, meine Freundin, mein alles ist tot!", murmelte Romeo völlig verzweifelt.
Julia kam es so vor, als stieße sie nun selbst einen entsetzten Schrei aus, aber in Wahrheit blieb alles still. Warum hielt Romeo sie für tot? War er in Bruder Lorenzos Plan denn nicht eingeweiht worden? Hatte es ein Missverständnis gegeben? Julia musste erleben, wie ihr Traum zum Albtraum wurde. Umso wichtiger war es, dass sie endlich erwachte.
Bald würde die Wirkung des Schlaftrunks nachlassen, und Julia
Weitere Kostenlose Bücher