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Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Dein Ende wird dunkel sein (German Edition)

Titel: Dein Ende wird dunkel sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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ist ins Holz gedrungen. Das bekomme ich nicht mehr weg.
    Um mich aufzumuntern, habe ich meinen Rationierungsplan heute Abend in den Wind geschlagen und unseren Weihnachtsschampus zum Kühlen hinaus auf die Veranda gestellt.
    Zum Kühlen? Jack, bist du noch ganz bei Trost?
    Beide Flaschen waren binnen kürzester Zeit gefroren. Es klang wie Gewehrschüsse, als sie platzten. Ich holte die Scherben herein und rettete, was zu retten war: eine große Schüssel gefrorene Matsche. Ich habe sie mit dem Löffel gegessen. Köstlich.
    Wenn auch ein wenig stark. Ups. Jack, du bist betrunken. Oder «beschwipst», wie Gus sagen würde. Ab ins Bett mit dir!
    8. November
    Sechs Tage, und es stürmt noch immer.
    Vier Tage noch, bis Gus und Algie zurückkommen. Obgleich das lediglich eine Vermutung ist, denn schließlich hat Algie «frühestens in zwei Wochen» gesagt. Und ehe der Sturm sich nicht endlich legt, werden sie gar nicht erst aufbrechen.
    Der Champagner war zu viel für mich. Ich ging in die Knie wie ein betäubter Ochse. Hatte heute Morgen ziemlich üble Kopfschmerzen, doch Algies Brausepulver hat mir wieder auf die Beine geholfen.
    Du schleichst um den heißen Brei herum, Jack. Los jetzt, spuck’s schon aus!
    Sobald ich aufgestanden war, ging ich zum Nordfenster und spähte in das wirbelnde Grau hinaus. Der Bärenpfosten war wieder da.
    Wie im Wahn wischte ich meinen Atem von der Scheibe. Da stand er. Aufrecht. Riesig. Unmöglich. Du hast ihn doch gefällt. Du hast ihn mit der Axt in Stücke gehackt.
    Der Sturm muss einen neuen Pfahl vom Ufer heraufgeweht haben. Doch weshalb steht er dann so aufrecht und starr? Und steht er nicht ein wenig näher als vorher? Ein wenig weiter rechts? Dichter an der Veranda?
    Dann schlug eine besonders gewaltige Schneeböe gegen das Fenster, und ich zuckte zurück. Als ich wieder hinaussah, war der Pfosten verschwunden. Schnee war alles, was ich sehen konnte. Schnee, der sich im heulenden Wind in riesigen Säulen drehte. Da war kein Pfosten. Da ist nie ein Pfosten gewesen.
    Das ist fünf Stunden her. Seitdem ist es mir gelungen, den Hunden einen Sack Fleisch zu bringen. Ich habe zur Bäreninsel gefunkt, dass ich wohlauf bin. Ich habe eine Büchse eingemachtes Hammelfleisch und eine Büchse Pfirsiche gegessen. Und ein ganzes Päckchen Player’s geraucht.
    Außerdem habe ich in diesem Tagebuch geblättert, und das war ein Fehler. Ich bin entsetzt darüber, in welchem Maße meine Handschrift sich verändert hat. Ich hatte stets eine ordentliche Schreibschrift, doch seit ich alleine bin, hat sich diese in spinnenhaftes Gekrakel verwandelt. Man kann die Angst erkennen, ohne auch nur ein einziges Wort zu lesen.
    Als der Sturm aufkam, schrieb ich, er wäre mir willkommen. Und diesen ganzen Mist über Luftdruckunterschiede und Dinge, die ich begreifen kann. Schwachsinn. Dieses permanente Getöse, diese heulende Wut. Das zermürbt mich. Reißt all meine Verteidigungswälle nieder.
    9. November
    Als ich erwachte, herrschte Stille. Ungebrochene, unglaubliche Stille. Nicht der leiseste Windhauch störte den Frieden.
    In der Schlafkammer war die Decke vom Fenster gerutscht, und ich lag im Mondschein. Die Fensterscheiben waren von einem schwarzen Kreuz geteilte, silberne Rechtecke. Ich streckte die Hand aus und spürte das Licht in meine Haut sickern. Ich war ein im Licht schwebender Taucher. Wundervolles, wundervolles Licht. Ich hätte vor Dankbarkeit am liebsten geweint.
    Schließlich schälte ich mich aus meinem Schlafsack, zog mich an und tappte ans Fenster.
    Dort, direkt vor mir, stand der Vollmond: riesig, leuchtend, golden. Jede noch so winzige Einzelheit des Lagers lag funkelnd entblößt. Wo der Bärenpfosten gewesen war, sah ich nichts weiter als eine sanfte Erhebung aus Schnee.
    Wie ein Genesender schlurfte ich durch die Hütte und zog die Decken von den Fenstern, um den Mondschein einzulassen. Ich wollte schauen und schauen und schauen. Der Gedanke, einen einzigen Augenblick zu verschwenden, war unerträglich.
    Am Nordfenster legte ich die Hände ans Glas und spähte hinaus.
    Der Sturm hatte die Bucht vom Eis befreit. Der Mond warf einen Pfad aus gebrochenem Silber über die See, der fort von Gruhuken führte. «Wunderschön», murmelte ich. «Wunderschön …»
    Ich sah dem Mond zu, wie er höher stieg. Ich sah ihn langsam von Gold zu Silber wechseln, ohne dass er etwas von seinem Glanz verlor. Mein Atem benebelte die Scheibe. Ich wischte das Glas mit dem Ärmel sauber. Als ich wieder

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