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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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das Überflüssige im Leben, das harmlos Dumme, das, was weder begeistert noch Anteilnahme oder Anstrengung von uns fordert, das Füllsel, das wir verachten, wenn die Dinge in Ordnung und wir tätig sind und keine Zeit haben, jemanden zu vermissen, nicht einmal diejenigen, die bereits gestorben sind (tatsächlich nutzen wir diese Phasen, um sie abzuschütteln, obwohl das nur vorübergehend gelingt, weil die Toten sich darauf versteifen, weiter tot zu sein und später immer wiederkehren, um uns einen Stich in die Brust zu versetzen und wie Blei auf unsere Seelen zu fallen).
    Dann vergeht die Zeit, und an einem unbestimmten Tag beginnen wir wieder zu schlafen, ohne aufzuschrecken und ohne uns im Traum zu erinnern, und uns nicht mehr aufs Geratewohl oder zur Unzeit zu rasieren, sondern am Morgen; keine Flasche zerbricht, kein Anruf irritiert uns, wir verzichten auf die Fernsehserie, auf das Kreuzworträtsel, auf die plötzlich aufgetretenen rettenden Routinehandlungen, die wir beim Abschied verwundert betrachten, weil wir fast nicht mehr verstehen, daß wir sie einmal gebraucht haben, und sogar auf die geduldigen Personen, die uns während unserer eintönigen und zwanghaften Trauerphase abgelenkt und zugehört haben. Wir heben den Kopf und sehen uns wieder um, und obwohl es nichts Verheißungsvolles oder Auffälliges gibt und nichts, was das Vermißte und Verlorene ersetzt, bereitet es uns allmählich Mühe, diese Sehnsucht aufrechtzuerhalten, und wir fragen uns, ob wir es wirklich verloren haben. Es kommt zu einer rückwirkenden Trägheit in bezug auf die Zeit, in der wir liebten oder uns aufopferten oder uns begeisterten oder uns ängstigten, man fühlt sich außerstande, einer Person noch einmal soviel Aufmerksamkeit zu schenken, zu versuchen, ihr zu Gefallen zu sein und über ihren Schlaf zu wachen und ihr das zu verbergen, was verborgen werden kann oder was ihr schaden könnte, und in dem dauerhaft fehlenden Alarmzustand findet man eine ungeheure Erholung. ›Ich wurde verlassen‹, denkt man, ›von der Geliebten, dem Freund oder dem Toten, sei’s drum, alle sind sie gegangen, das Ergebnis ist das gleiche, ich bin zurückgeblieben. Am Ende werden sie es bedauern, weil man sich gern geliebt weiß und es traurig ist, sich vergessen zu wissen, und ich vergesse sie jetzt allmählich, wer stirbt, weiß mehr oder weniger auch, was ihn erwartet. Ich habe getan, was ich konnte, ich habe es standhaft ertragen, und dennoch haben sie sich von mir abgewandt.‹ Und dann zitiert man innerlich: ›Die Erinnerung ist ein zittriger Finger.‹ Und fügt danach von sich aus hinzu: ›Und nicht immer zeigt sie treffsicher auf uns.‹ Wir entdecken, daß unser Finger nicht mehr trifft oder ihm das immer weniger gelingt und daß diejenigen, die unseren Verstand Tag und Nacht und Tag und Nacht besetzt hielten und darin festsaßen wie ein tief eingeschlagener Nagel, sich langsam lösen und uns allmählich nicht mehr wichtig sind; sie verschwimmen, zittrig auch sie, und man kann sogar an ihrer Existenz zweifeln, als wären sie ein längst abgeriebener, abgewaschener, entfernter Blutfleck oder einer, von dem nur der Rand bleibt, das, was am mühsamsten zu entfernen ist, und dieser Rand verblaßt schon.
    Dann vergeht mehr Zeit, und es kommt ein Tag, bevor die Spur verschwindet, an dem die bloße Vorstellung, sich ihnen zu nähern, uns plötzlich wie eine Bürde erscheint. Obwohl wir nicht froh sind und sie weiter vermissen, obwohl wir vereinzelt noch immer an ihrer Ferne oder ihrem Verlust leiden – eines Nachts betrachten wir vom Bett aus unsere Schuhe, die allein neben einem Stuhl stehen, und werden von Kummer erfaßt, wenn wir uns an die anderen mit dem hohen Absatz erinnern, die Jahr für Jahr daneben standen und unterstrichen, daß wir selbst noch im Schlaf, in der Abwesenheit, zu zweit waren –, stellt sich heraus, daß jene, die wir am meisten liebten, die wir noch immer lieben, zu Personen einer anderen Zeit geworden sind oder zu auf dem Weg Verlorenen – auf dem unseren, für jeden zählt der eigene –, zu fast vergangenen Wesen, zu denen zurückzukehren man keine Lust verspürt, weil sie uns längst bekannt sind und der rote Faden der Dauer mit ihrem Verschwinden abgerissen ist. Wir betrachten die Vergangenheit immer mit einem anmaßenden Überlegenheitsgefühl, die Vergangenheit als solche sowie ihre Inhalte, auch wenn unsere Gegenwart schlechter oder unglücklicher oder krank ist und die Zukunft uns keinerlei Verbesserung

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