Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
in letzter Zeit pausenlos gearbeitet.«
»Mich dagegen zwingst du mit all diesen Eskapaden, meine Reise nach Madrid aufzuschieben. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, daß ich meine Kinder seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe, ich werde sie kaum wiedererkennen. Auch meinen Vater nicht. Mein Vater ist sehr alt, er ist nur ein Jahr jünger als Peter. Manchmal befürchte ich, ihn nicht wiederzusehen.« Und hier ließ ich nun wirklich nicht locker: »Warum hast du mich mitgenommen? Damit ich mir neue Schuhe kaufe?«
Tupra lächelte mit seinen wulstigen Lippen, die trotz der Dehnung kaum schmaler wurden.
»Es war angebracht, dich Clemens von T vorzustellen, er ist längst ein alter Freund und leistet wunderbare Arbeit, man kann ihm vertrauen. Bestimmt wirst du von jetzt an sehr viel bessere Schuhe tragen. Außerdem kannst du direkt mit ihm verhandeln. Für den nächsten Monat sind keine Reisen vorgesehen, es spricht also nichts dagegen, daß du ein paar Wochen nach Madrid fährst. Wenn du willst. Zwei oder drei.«
So ein langer Urlaub. Das verwirrte mich. Ich bedankte mich bei ihm. Aber es war nicht möglich, von ihm eine Antwort auf Fragen zu bekommen, auf die er nicht zu antworten beschlossen hatte, das wußte ich nur zu gut, oder daß er Erklärungen für etwas gab, was er nicht erklären wollte oder durfte. Ich gab es auf. Ich nahm an, daß er sich mit diesen Sätzen auf etwas anderes bezog als auf die Schuhe, daß er mich später beauftragen würde, mit Clemens von T über etwas anderes als Schuhwerk zu verhandeln. Tatsache ist jedenfalls, daß ich noch heute, da die Zeit des Fiebers und des Traums vorbei ist und ich vollständig zurück in Madrid bin, meine schönen, haltbaren Paare in seinem kleinen Geschäft in Berlin bestelle.
T upra hatte im Flugzeug nicht gelogen, und so plante ich meine Reise nach Madrid für den nächsten Monat, ein Aufenthalt von zwei Wochen, mir war klar, daß mir das genügen und vielleicht sogar zu lang erscheinen würde, ich meine, womöglich wüßte ich nicht, was ich dort mit meiner Zeit anfangen sollte, wenn ich erst einmal alle gesehen hätte.
Er ist seltsam und voller Ungereimtheiten, der Prozeß des Sehnens oder des Vermissens, sowohl einer Abwesenheit als auch eines Verlassenwerdens oder eines Todes wegen. Man glaubt zunächst, daß man ohne eine bestimmte Person oder weit entfernt von ihr nicht leben kann, der anfängliche Schmerz ist so scharf und beständig, daß man so etwas wie einen völligen Zusammenbruch oder eine endlos sich vorwärts bewegende Lanze fühlt, weil jede Minute der Entbehrung zählt und ihr Gewicht hat, sich bemerkbar macht und uns zusetzt und man nur darauf wartet, daß die Stunden des Tages vergehen, obwohl man weiß, daß ihr Vergehen uns nichts Neues bringen wird, nur mehr Warten auf mehr Warten. Jeden Morgen öffnet man die Augen – wenn man in den Genuß von Schlaf gekommen ist, der es nicht erlaubt, ganz zu vergessen, der jedoch vermischt – mit dem gleichen Gedanken, der einen bedrückte, kurz bevor man sie schloß, zum Beispiel ›Sie ist nicht da und wird nicht wiederkommen‹ (das heißt zu mir zurückkommen, oder vom Tod), und man schickt sich an, nicht etwa den Tag mühsam zu bewältigen, denn man ist nicht einmal imstande, so weit zu sehen oder Tag und Tag zu unterscheiden, sondern die nächsten fünf Minuten und dann mühsam weitere fünf, und so fährt man fort in Fünfer-, wenn nicht in Einerschritten und verfängt sich in allen und versucht höchstens, sich für zwei oder drei Minuten vom eigenen Bewußtsein oder von der eigenen grüblerischen Lähmung abzulenken. Wenn das geschieht, so nicht aus Willenskraft, sondern durch irgendeinen wohltuenden Zufall: eine kuriose Meldung in den Fernsehnachrichten, der Moment, da man mit einem Kreuzworträtsel fertig ist oder damit beginnt, der irritierende oder besorgte Anruf von jemandem, den man nicht erträgt, die Flasche, die einem aus der Hand fällt und einen zwingt, die Scherben aufzusammeln, um sich nicht zu schneiden, wenn man aus Trägheit barfuß geht, die miese Fernsehserie, die man zu mögen beginnt – oder es ist einfach so, daß man sich auf Anhieb, mit einem Schlag an sie gewöhnt – und der man sich mit unerklärlichem Trost hingibt, bis zum Abspann, mit dem Wunsch, es möge sogleich eine weitere Episode beginnen, die es einem erlaubt, sich an eine idiotische, endlich gefundene Kontinuität zu klammern. Es sind die gefundenen Routinehandlungen, die uns aufrechterhalten,
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