Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
auch gar nichts und läßt nur die Zeit vergehen, bis sie klarer sieht und weiß, was sie will. Oder ob sie etwas will. Nach dem, was Ranz mir gesagt hat, und nach dem Ruf dieses Custardoy ist es unwahrscheinlich, daß er sie bedrängt, mit ihm zusammenzuziehen oder sich scheiden zu lassen oder dergleichen; wo er doch nicht zu denen gehört, die sich verlieben. Ich habe sie auch nicht viel gefragt, das muß ich zugeben: Du kennst mich ja, ich höre mir an, was andere mir von sich aus erzählen, aber es interessiert mich nicht besonders, solange es nicht wirklich ernst wird. Ich weiß nur, daß sie mit diesem Typen ausgeht und Spaß dabei hat und daß er ihr gefällt, das ist unübersehbar. Wie sehr, weiß ich nicht; aber vielleicht sehr, das kann schon sein, vielleicht ist sie hin und weg und ist deswegen so diskret und behält alles für sich. Also, sie macht keinen Hehl aus dieser Beziehung, aber sie läßt sich auch nicht groß darüber aus. Mir gegenüber, will ich sagen, bei anderen hält sie sich wohl noch mehr zurück. Sie hat sie mir jedenfalls nicht mit Pauken und Trompeten verkündet, als große Neuigkeit. Und zusammen habe ich die beiden nur einmal gesehen, nur kurz und vom Auto aus, ich habe nicht etwa mit ihnen zusammengesessen oder so. Auf mich wirkt sie noch reserviert oder befangen, als schämte sie sich, einen Freund zu haben, nach all den Jahren, in denen sie eine verheiratete Frau gewesen ist.‹
›Wie war das, du hast die zwei gesehen?‹ Selbst wenn die Begegnung so kurz gewesen war, wie sie sagte, es würde für mich das einzige Bild bleiben, das die beiden zusammen zeigte, mit Ausnahme des indirekten und unaufmerksamen meines Schwagers über meine Schwester. Und es war mir ein Bedürfnis, sie mir auszumalen. Es war merkwürdig, sich Luisa an der Seite eines anderen vorzustellen und nicht mehr an meiner. Der Gedanke erschien mir weniger als abstoßend oder beleidigend denn als unwirklich, wie eine schauspielerische Darbietung, wie eine Farce. Und er war eher unwirklich als schmerzlich, auch das. Trennungen dieser Art ergeben keinen Sinn, so normal sie auf der Welt inzwischen sein mögen. Jahrelang dreht man sich um einen Menschen, zählt immer auf ihn, man sieht ihn täglich, als wäre er eine natürliche Verlängerung von einem selbst, man trägt ihn auf Schritt und Tritt und bei jeder Beschäftigung in sich, in jeder Abschweifung und sogar in den Träumen. Man nimmt sich vor, ihm noch die kleinste Nebensächlichkeit zu erzählen, der man beigewohnt hat oder die einem widerfahren ist, zum Beispiel die Bitte einer rumänischen Mutter um feuchte Tücher für ihre Kinder. Man hat diesen Menschen , so wie die ungarische Zigeunerin sie hatte oder Alan Marriotts Hund keine Pfote hatte . Man hat eine fortlaufend erneuerte, detaillierte und stetige Kenntnis von den Gedanken und Sorgen und Tätigkeiten dieser Person; man weiß um ihre Termine und ihre Gewohnheiten, wen sie sieht und wie häufig; und wenn man bei Einbruch des Abends mit dieser Frau zusammentrifft, dann erzählen wir beide uns, was wir im Laufe des Tages erlebt und was wir gemacht haben, indessen keiner den anderen je ganz aus dem Bewußtsein verloren hat, und manchmal sind diese Berichte reich an Einzelheiten; dann legt man sich mit ihr ins Bett, und sie ist das letzte, was man sieht am Tag, und – was noch außerordentlicher ist – man steht auch mit ihr auf, am Morgen ist sie immer noch da, nach den privaten Stunden, als wäre sie man selbst, der man nie geht oder verschwindet und den wir nie aus den Augen verlieren; und so einen Tag nach dem anderen über viele Jahre. Doch auf einmal – wobei es nicht ›auf einmal‹ geschieht, aber doch so aussieht, sobald der Prozeß einmal abgeschlossen ist und die Distanzierung sich gesetzt hat: Tatsächlich geschieht es ›in ganz kleinen Schritten‹, und außerdem haben wir den Anfang gesehen, wollten ihn aber nicht wahrhaben –, auf einmal geht man dazu über, keine Ahnung mehr zu haben, was diese Person täglich denkt, empfindet und tut; Tage, ja Wochen vergehen, in denen man kaum etwas erfährt, und man muß sich auf Dritte stützen – auf diejenigen, die früher viel weniger wußten: verglichen mit einem selber gar nichts –, um noch das Grundlegendste in Erfahrung zu bringen: was sie für ein Leben führt, wen sie sieht, was ihr an den Kindern Sorgen macht, mit wem sie ausgeht, ob ihr etwas weh tut oder ob sie erkrankt ist, ob ihre Stimmung leicht oder getrübt ist, ob sie weiter
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