Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Heinrichs V. unmittelbar nach seiner Krönung, viele Jahre bevor er sich eines Nachts incognito unter seine Soldaten mischt, am Vorabend der Schlacht von Agincourt, alle Elemente gegen sich und unter hohem Risiko, schlecht beurteilt zu werden oder – wie ihm einer seiner Soldaten sagt, ohne zu wissen, daß er mit seinem König spricht – nur schwer Rechenschaft geben zu können, wenn sein Motiv kein gerechtes ist. So lauteten die unerwarteten Worte dessen, der bis vor sehr kurzem noch Prinz Hal gewesen war, ein zügelloser Mann, ausschweifend und ein schlechter Sohn, und sie richteten sich an seinen Saufkumpan noch in jüngster Zeit, den bereits greisen Falstaff, den er nun verleugnete: ›I know thee not, old man.‹ ›Ich kenn dich nicht, Alter‹, ein solcher Satz genügt, um allem abzuschwören, was man bis dorthin gelebt hat, den Exzessen und der Skrupellosigkeit, dem Mißbrauch und der Streitsucht, den Bordellen und den Tavernen und den unzertrennlichen Freunden, selbst wenn diese sich flehend an einen wenden, so wie Falstaff an seinen geliebten Prinz Hal, als der kaum seinen Namen aufgegeben hat, um sich in den rigorosen König Heinrich zu verwandeln, ohne mögliche Umkehr oder möglichen Weg zurück: ›My sweet boy.‹ ›Herzensjunge.‹ Doch Worte wie diese dienen nicht nur dazu, sich zu läutern und ein liederliches Leben hinter sich zu lassen oder das eines roué avant la lettre, eines Schürzenjägers oder Hallodris, vielmehr sind sie auch geeignet, andere Pfade und andere Wendungen oder Metamorphosen anzukündigen: Auch ich konnte zu Luisa und Custardoy im Geiste sagen, und zu mir selbst, im Gehen: ›Ich bin nicht mehr, was ich gewesen. Ich habe meinem alten Ich Lebwohl gesagt. Ich trage eine Pistole und stelle eine Gefahr dar, ich bin nicht mehr der, der keinem Menschen wissentlich Angst einjagte, vielmehr bin ich nicht, der ich bin, wie Yago, oder ich beginne, es nicht zu sein.‹
Ich nahm also meinen Beobachtungsposten an der Stelle wieder ein, wo ich zwei Tage zuvor aufgehört hatte, oben auf der kurzen Doppeltreppe zur schauderhaften Kathedrale, mit dem Rücken zu der Papststatue kurz vor dem Absprung, mal an dieser Stelle, mal an der anderen nahegelegenen hinter den Gitterstäben und links von dem Laden, in dem unbegreiflicherweise souvenirs von diesem Alptraum verkauft wurden, die beiden Punkte waren nur wenige Schritte voneinander entfernt, und von dem einen oder dem anderen aus hatte man die vier Ecken der Kreuzung Calle Mayor und Calle Bailén im Blick, wie auch die Haustür aus üppig verziertem Holz, die sich gegenüber von dem zweiten befand, allerdings etwas weiter unten, woher Custardoy auch kam, ich würde ihn sehen, ich ging davon aus, dass er auf demselben Weg erscheinen würde wie an dem Tag, als ich ihm gefolgt war, sofern er auch heute in den Prado gegangen war, gut möglich, daß er mit seinen Aufzeichnungen und Skizzen der vier Gesichter des Parmigianino noch nicht durch war, die alle woandershin sahen, oder daß er auch mal den Ehemann und Vater unter die Lupe nehmen mußte, den Grafen, der so abseits und isoliert stand wie ich, oder daß er andere Gemälde studieren mußte für irgendeinen Auftrag oder irgendein Projekt. Und wenn er am Morgen nicht ausgegangen war, konnte es sein, daß er um die Stunde des Aperitifs den Anciano Rey de los Vinos aufsuchte, um sein Bier zu trinken und seine patatas bravas zu essen (kein Wunder, daß seine Schlankheit ihn am Bauch verließ), auf einem der Stühle dort würde ich ihn ebenfalls ausmachen, wenn er wieder dort Platz nahm. Auf jeden Fall würde ich ihn ins Haus gehen oder herauskommen sehen, sobald er das tat, und ich würde Zeit genug haben, die Treppenstufen hinunterzulaufen, über die Straße zu gehen – wenig Verkehr in diesem Teil der Straße – und ihn am Eingang abzufangen, wenn er die Tür öffnete. Es überraschte mich, zum ersten Mal die Haustür offen zu sehen, ich schloß daraus, daß es doch einen Portier geben mußte, was sich auf meine Annäherung recht ungünstig auswirken konnte, ein Zeuge. Doch nach wenigen Minuten sah ich, wie ein Mann herauskam und die Türe zuzog (er ging wohl früh zum Mittagessen), und das beruhigte mich ein wenig, denn die Sekunden, die Custardoy brauchen würde, um den Schlüssel ins Schloß zu schieben und ihn zu drehen und die Tür aufzudrücken oder -zuziehen und sie nachher mit einem Stoß von innen oder einem Ziehen von außen wieder zu schließen, konnten für mich von
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