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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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    ›Ich will nicht, daß jemand verschwindet‹, dachte ich dann als nächstes. ›Ich glaube nicht an das Jüngste Gericht und auch an keinen großen Tanz von Freud und Leid, weder an die Ermordeten, die Klage gegen ihre Mörder erheben und sie vor dem entsetzten oder überdrüssigen Richter anklagen würden, alle vereint in einem fürchterlichen Geschrei. Ich glaube nicht daran, weil ich nicht zur Zeit des festen Glaubens gehöre und weil es außerdem nicht nötig ist, diese Szene findet bereits hier statt, auf dieser Erde, allerdings auf fragmentarische und individuelle Weise, zumindest wenn der Tote weiß oder sieht, wer ihn tötet, und dann kann er ihm schon mit seinem Lebwohlblick sagen: »Du nimmst mir das Leben mehr aus Eifersucht denn aus Gerechtigkeit, ich habe niemanden getötet oder du weißt davon nichts, du verpaßt mir eine Kugel in die Schläfe oder unter das Ohrläppchen, nicht, weil du glaubst, daß ich deine Ex-Frau schlage wie ein stinknormaler Mißhandler, obwohl du den Verdacht womöglich nicht loswerden kannst noch willst und es so sehen mußt als vorübergehende Rechtfertigung, die dir schon morgen nichts mehr nützen wird, sondern weil du Angst vor mir hast und um deinen Besitz kämpfen wirst wie jeder, der ein Verbrechen begeht und sich von dessen Notwendigkeit überzeugen muß: für deinen Gott, für deinen König, für dein Vaterland, deine Kultur, dein Volk; für deine Fahne, deine Legende, deine Sprache, deine Klasse, deinen Raum; für deine Ehre, deine Religion, für die Deinen, für deinen Tresor, deinen Geldbeutel und deine Socken; oder für deine Frau. Kurzum, du hast Angst. Ich starb in meiner Wohnung an einem bewölkten Tag, ohne den Trenchcoat abgelegt zu haben, zwischen meinen Bildern, als ich es am wenigsten erwartete, und von Hand eines Unbekannten, der mich an der Haustür abfing und mir eine letzte Zigarette gab, die mir nicht geschmeckt hat. Ich werde nicht mehr in den Prado gehen, um die Gemälde zu betrachten, ich werde sie nicht mehr studieren und kopieren und sie auch nicht mehr fälschen, ich werde nicht mehr durch Madrid spazieren mit meinem welligen Pferdeschwanz und meinem feschen Hut und keine Biere mehr trinken oder patatas bravas essen, ich werde nicht in die Buchhandlung gehen oder meine Freundinnen grüßen oder stehenbleiben, um Statuen anzusehen oder die Beine einer Frau in Bewegung, und ich werde niemanden mehr zum Lachen bringen. Dem allen setzt du ein Ende. Es mag nicht viel sein, aber es ist das, was ich habe, es ist mein Leben und es ist einzigartig, und niemand wird es je wieder haben. Möge ich jetzt jede Nacht wie Blei auf deiner Seele lasten, möge ich deinen Schlaf mit Verstörungen füllen, mögest du auf der Brust mein gebeugtes Knie spüren, während du mit einem offenen Auge schläfst, du wirst es nie wieder schließen können.« Nein, ich will nicht, daß jemand verschwindet‹, dachte ich abermals, ›nicht einmal, daß dieser Mann hier fehlt. Ich wage es nicht, I do not dare , und es wird immer Zeit sein, kehrtzumachen und to descend the stair, ich wage es nicht, das Universum aufzustören, oder ich darf es nicht, und noch weniger etwas daraus aufzuheben in meinem Grimm oder in my angry mood . Custardoy hat noch eine Zeitlang Platz in diesen Straßen, sie laufen schon voller Blut und niemand sollte sie zitternd verlassen, und vielleicht sind sie saturiert von Männern, die von Zorn erfüllt sind, und von Blitzen ohne Donner, die stumm in Stücke spalten, ich sollte nicht auch noch so einer werden. »Jeder wohnt seiner Erzählung bei, Jack. Du der deinen und ich der meinen«, hatte Tupra einmal zu mir gesagt. Mein Gesicht würde sich auch dem von Santa Olalla anschließen und dem, das noch schlimmer ist, dem von Del Real, die für mich immer die Namen des Verrats gewesen sind; denn indem sie meinen Vater gleich nach Kriegsende denunzierten, suchten sie nichts anderes als seine Exekution und seinen Tod, das war das Schicksal, das jeden Denunzierten erwartete, sie waren Herren über die Zeit, sie hielten die Uhr in der Hand und ordneten ihren Stillstand an, jene Uhr aber lief weiter und gehorchte ihnen nicht, und dank dieser Tatsache bin ich hier, und er mußte sich nicht im Sterben sagen: »Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen.« Nein, ich werde nicht derjenige sein, der diesem unangenehmen Menschen solche Mühsal auferlegt, für den ich eine seltsame Mischung aus Sympathie und Abneigung empfinde, er

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