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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Kinderwachsoldaten am Eingang zum Hypermarkt, mehr als einmal hatte ich mich dabei ertappt, daß ich im fernen London an diese Leute dachte, nachdem ich durch eine Erzählung von ihrer Existenz erfahren hatte. Die Gedankenverbindung verlief von Custardoy zu meinem tanzenden Nachbarn von gegenüber, mit dem ich kein Wort gewechselt, der mich aber so oft aufgemuntert oder beruhigt hatte mit seinen improvisierten Tänzen jenseits des Square oder Platzes, alleine oder in Begleitung seiner Freundinnen oder partenaires oder Geliebten. Ja, sie hatten einiges gemeinsam: Mein Tänzer ist schlank, mit knochigen Gesichtszügen – Kiefer und Nase und Stirn –, doch von athletischem, kräftigem Körperbau, wie auch Custardoy ganz aus Nerven besteht; er trägt einen dichten, aber gepflegten Schnurrbart, wie ein Pionier-Boxer, doch ohne die Ondulierungen des neunzehnten Jahrhunderts, glatt, und kämmt sich das Haar nach hinten mit einem Mittelscheitel, als trüge er einen Nackenschopf, aber ich habe ihn nicht gesehen, am ersten besten Tag läßt er ihn wachsen wie Custardoy, am ersten besten Tag; manchmal trägt er auch eine Krawatte, wie dieser es immer tut, sogar bei seinen Läufen und Sprüngen durch sein freigeräumtes Wohnzimmer ohne Möbel, total verrückt, dieser Typ, wie glücklich er wirkt, wie losgelöst von allem, was uns verschleißt und verbraucht, seinen Tänzen hingegeben, die für niemanden bestimmt sind, er wäre perplex, wenn er wüßte, daß ich ihn bisweilen beobachte, wenn ich warte oder müßig bin, und es kann sein, daß ich nicht der einzige in meinem Gebäude bin, es ist amüsant und macht sogar fröhlich, ihm zuzusehen, es ist auch mysteriös, ich vermag mir nicht vorzustellen, wer er ist oder was er tut, er entzieht sich – und das geschieht nicht häufig – meinen interpretatorischen oder deduktorischen Fähigkeiten, die treffen oder irren, aber nie blockiert sind, sondern sich sogleich in Gang setzen, um ein improvisiertes, minimales Bild zu verfertigen, ein Stereotyp, eine blitzhafte Eingebung, eine plausible Vermutung, eine Skizze oder ein Fragment des Lebens, wie imaginär und elementar oder willkürlich auch immer, es ist mein detektivischer, wacher Geist, mein stupider Geist, den Clare Bayes mir in diesem selben Land vor nun schon so vielen Jahren unermüdlich ankreidete und vorwarf, bevor ich Luisa kennenlernte, und den ich bei Luisa unterdrücken mußte, um sie nicht zu irritieren und ihr keine Angst zu machen, abergläubische Angst, die am meisten schadet, und trotzdem nützte es wenig, nichts nützt gegen das, was man schon weiß und am meisten fürchtet (vielleicht weil man es dann zwangsläufig anzieht und befördert, denn sonst ist es ein Reinfall), man weiß gewöhnlich, wie die Dinge enden, wie sie sich entwickeln und was uns erwartet, welche Richtung sie nehmen und worauf sie hinauslaufen; alles ist erkennbar, in Wirklichkeit ist alles sehr rasch sichtbar in den Beziehungen wie in den ehrlichen Erzählungen, man muß sich nur trauen, es anzuschauen, ein einziger Augenblick schließt den Keim vieler künftiger Jahre und fast unserer ganzen Geschichte in sich – ein einziger gewichtiger oder gravierender Augenblick –, und wenn wir wollen, sehen wir diese Geschichte und können sie schon in groben Zügen abschreiten, der möglichen Varianten sind nicht so viele, die Anzeichen täuschen selten, wenn wir imstande sind, die bedeutsamen zu erkennen, wenn man – aber das ist so schwierig und verhängnisvoll – bereit dazu ist …
    Ich hatte Custardoy interpretiert oder deduziert, und außerdem hatte ich Informationen, beides hatte für mich ausgereicht, um ihn zu verurteilen. Doch welch ein Pech oder welch ein Glück – wie ich es beklage, wie ich es feiere –, der Mann erinnerte mich an meinen zufriedenen Tänzer, dem ich aus der Ferne dankbar war, zweifellos rührte daher die unerklärliche Sympathie, welche sich mit der tiefen Abneigung mischte, die er in mir hervorrief. Wer wußte, ob sie sich noch in weiteren Aspekten ähnlich waren, ob sie noch andere Affinitäten aufwiesen als das gewinnende Lächeln und die körperlichen, oberflächlichen Übereinstimmungen: Wenn Custardoy Skizzen zeichnete und sich in seinem Heft Notizen über den Parmigianino machte, war er vielleicht ebenso konzentriert darauf wie mein Nachbar auf seine Tänze, ebenso glücklich und wohlgemut, und wenn er zu Hause malte, wenn er kopierte oder fälschte, vertiefte er sich womöglich noch mehr darin und löste

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