Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
sich vollends von allem, was uns verschleißt und verbraucht. Und der Tänzer ließ sich häufig von zwei Frauen begleiten, so wie Custardoy gelegentlich zwei mit ins Bett nahm in seinem Bedürfnis nach Verdoppelung oder danach, mehr als ein Leben zu leben. Das, vor allem das war es, was mich dazu brachte, ihn nicht zu töten, eine Dummheit, eine Lächerlichkeit, ein zufallshaftes und überflüssiges Aufblitzen des Denkens, des Zweifels oder der Laune oder einer törichten Anwandlung, einer ungünstigen Assoziation der flatterhaften Erinnerungen, oder war es eher des unvollkommenen Vergessens.
Wortlos trat ich an den Kamin, um den ich ihn beneidet hatte, und dann handelte ich sehr schnell, als wäre ich zerstreut oder eher beschäftigt, ich verhielt mich wie jemand, der arbeitet, so wie Reresby, nachdem er die blitzsaubere Toilette betreten hatte. ›Jetzt verfüge ich über seine Kaltblütigkeit‹, dachte ich erneut; ›jetzt weiß ich, wie ich den Kerl verjagen kann, jetzt kann ich es mir endlich vorstellen, und darum geht es, dann schafft man sich Probleme tatsächlich vom Hals; jetzt kann ich den Schlag dosieren, das Schwert herabsenken und nicht abschneiden, es heben und dann niederfahren lassen, um nichts abzutrennen und ihm dennoch einen Todesschrecken einzujagen, der dazu führt, daß er sich uns nie wieder nähert, mir nicht und vor allem nicht Luisa.‹ Ich nahm einen Schürhaken, und ohne ihm Zeit zu lassen, sich vorzubereiten oder es auch nur zu ahnen, schlug ich ihm mit aller Kraft auf die linke Hand, die er wie die rechte auf den Tisch gelegt hatte. Ich hörte seine Knochen brechen, ich konnte es ganz deutlich hören, trotz des Aufheulens, das ihm zur selben Zeit entfuhr, sein wildes und obszönes und kaltes Gesicht verzog sich vor Schmerz, in diesem Augenblick war es nichts mehr davon, und er griff sich instinktiv mit der anderen an die verletzte Hand.
»Scheiße, du hast mir die Hand gebrochen, du Drecksau!« Das war eine normale Reaktion, er wußte in Wirklichkeit nicht, was er da sagte, der Schmerz hatte ihn kurzzeitig vergessen lassen, daß ich noch immer mit einer Pistole auf ihn zielte und zuletzt zu ihm gesagt hatte: ›… du wirst ihr von dieser Sache nämlich nichts erzählen‹.
Aufs neue hob ich den Schürhaken, und diesmal ritzte ich ihm mit weniger Kraft – ja, ich vermochte die Schläge zu dosieren – eine Wange auf, ich verpaßte ihm uno sfregio oder einen Schmiß, der um einiges größer und tiefer ausfiel als derjenige, den Flavia Manoia abbekommen hatte, wobei er kaum bis auf den Knochen ging. Er griff sich mit der gesunden Hand ans Kinn, an die betreffende Wange – es war die rechte –, und sah mich mit Panik im Blick an, mit einer Angst, die schon nicht mehr bodenlos war, sondern atavistisch, der Angst dessen, der nicht weiß, ob ihn noch weitere Hiebe erwarten oder wie viele, weil Schwerter so sind und weil so die Waffen sind, die nicht aus der Hand gegeben und nicht geschleudert werden, diejenigen, mit denen man aus der Nähe tötet und dem Toten ins Gesicht sieht, ohne daß der Mörder oder Richter oder Gerechte das Schwert aus der Hand gibt oder sich von ihm trennt, während er sein unheilvolles Werk verrichtet und damit zustößt, abschlägt und in Stücke haut, alles mit derselben Waffe, die er nicht wirft, sondern festhält und jedesmal kräftiger packt, während er durchbohrt, verstümmelt, aufspießt und ganze Glieder abhackt. Ich tat nichts von alledem, es war gar nicht die geeignete Waffe dafür, es war ja nicht einmal eine Waffe, sondern nur ein Werkzeug.
»Die Hände auf den Tisch, habe ich dir gesagt.« Und ich lud die Pistole erneut durch, allerdings ohne den Zeigefinger an den Abzug zu legen.
Er sah mich bestürzt und mit erneuerter Wachsamkeit an, oder war sie nun von anderer Art, seine Augen waren wieder weiter auseinandergerückt, nachdem sie sich vorübergehend zusammengezogen hatten. Ich weiß, was ihm in diesem Moment durch den Sinn ging, zweifellos dachte er: ›Nein, bitte nicht. Dieser Irre will mir auch noch die andere Hand brechen, die, mit der ich male.‹
»Nein. Wozu denn? Nein. Auf keinen Fall«, sagte er.
Mir blieb also keine andere Wahl, als ihm den Lauf an die Schläfe zu halten, damit er es ernst nahm, neben seine breite Stirn, neben die Geheimratsecken, auch wenn ich mir jetzt sicher war, daß ich ihn nicht erschießen würde. Er konnte das nicht sein, er hatte keine Ahnung, und das war mein großer Vorteil, daß er mich nicht
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