Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
ist Teil dieser Landschaft und des Universums, er setzt noch seinen Fuß auf die Erde und durchschreitet die Welt, und es kommt mir nicht zu, sie zu verändern, am Ende der Zeit bleiben nur Spuren oder Ränder, und in jedem davon macht man höchstens den Schatten einer unvollständigen Geschichte aus, voller Lücken, gespenstisch, hieroglyphisch, abgestorben oder fragmentarisch wie Bruchstücke von Grabsteinen oder wie zerfallende Bogenfelder mit bröckelnden Inschriften, »vergangene Materie, stumme Materie«, und dann kann man zweifeln, ob er jemals existiert hat. Warum hat sie das getan, wird man von dir sagen, wozu soviel Unruhe und die Beschleunigung ihres Pulses, wozu diese Bewegung und dieser Sprung; und von mir wird man sagen: Warum redete er oder schwieg er und bewahrte so viele Abwesenheiten, wozu dieses Gefühl von Schwindel, so zahlreich die Zweifel und so eine Qual, wozu tat er diese und so viele andere Schritte. Und von uns beiden wird man sagen: Warum gingen sie aufeinander los und wozu diese ganze Anstrengung, warum führten sie Krieg, statt zu schauen und ruhig zu verharren, warum verstanden sie es nicht, sich zu sehen oder sich weiter zu sehen, und wozu soviel Traum und dieser Stich, mein Schmerz, mein Wort, dein Fieber und so zahlreich die Zweifel und so eine Qual.‹
Ich warf die zweite Kugel aus und steckte sie ein, ich entspannte den Hahn, nahm den Zeigefinger vom Abzug und legte ihn wieder auf den Bügel, wie Miquelín mir empfohlen hatte, es immer zu tun, solange ich nicht sicher wäre, daß ich seine alte Llama abfeuern würde. Ich sah bei Custardoy einen Ausdruck beherrschter oder zurückgehaltener Erleichterung, er wagte es nicht, sie ganz zu fühlen, und wie auch, noch immer zielte der Lauf einer Schußwaffe auf sein Gesicht, und der Mann, der die Waffe umklammerte, trug ein Paar Handschuhe, und außerdem sah er diesen Mann jetzt etwas tun, das alles andere als beruhigend war: Er nahm die beiden Aschenbecher mit den zwei Zigaretten und ihrer jeweiligen Asche, seine eigene und die Custardoys, die Kippen der beiden Karelias, und leerte sie in die freie Tasche seines Trenchcoats, um sie sich nicht mit den Patronen zu mischen, so wie Tupra seine nassen, ausgewrungenen und in je einen Streifen Toilettenpapier eingewickelten Handschuhe in die Manteltasche gesteckt hatte, »je ein Papierhandtuch«, auf jener Behindertentoilette, wobei er das getan hatte, nachdem sein Werk vollbracht war, ich dagegen hatte es noch vor mir. ›Jetzt verfüge ich sehr wohl über seine Kaltblütigkeit, die von Reresby, jetzt, da ich endlich die Ähnlichkeit oder Affinität dieses Mannes erkannt habe und er deshalb mit dem Leben davonkommen wird‹, dachte ich; ›und jetzt, da ich ihn so eingeschüchtert habe, obwohl er es sich kaum hat anmerken lassen und durchaus die Fassung bewahrt hat, was auch immer ich ihm antue, wird ihm gut und wenig scheinen, er wird sich glücklich schätzen und es vertretbar finden. Ich werde nicht Wachtmeister Tod sein und nicht Sir Death oder Sir Cruelty oder auch nur Sir Thrashing , nicht Gevatter Tod oder Grausamkeit oder Prügel, ich werde nur Sir Blow oder Sir Wound und Sir Punishment sein, Gevatter Schlag & Stoß oder Wunde und Strafe, denn etwas muß man tun, um ihn von der Bildfläche zu schaffen, so wie Tupra es mit De la Garza getan hat.‹
Denn beim Nachdenken (eigentlich habe ich vieles davon erst später gedacht) war mir klargeworden, wer die Person war, an die Custardoy mich erinnerte; was seine Affinität war, um Wheelers Ausdruck zu verwenden; oder seine Verwandtschaft, oder lag in diesem Fall gar Ähnlichkeit vor. Und bestimmt war es dieser so frivole Sachverhalt, der ihn vollends rettete, der ihn wahrlich und endgültig rettete, eine Dummheit, eine Lächerlichkeit, ein zufallhaftes und überflüssiges Aufblitzen, eine günstige Gedankenverbindung oder eine flatterhafte Erinnerung, die sich genausogut nicht hätten einstellen können, manchmal gibt so etwas den Ausschlag dafür, was man tut oder nicht tut, so wie wir entscheiden, einem Bettler unter so vielen ein Almosen zu geben, dessen Anblick uns unverhofft bewegt: Plötzlich sehen wir die Person jenseits ihrer Situation und ihrer Funktion und ihrer Bedürfnisse, wir sehen ein Individuum, und es erscheint uns nicht mehr ununterscheidbar oder austauschbar wie ein Gegenstand des Mitleids, es gibt ja Hunderte davon; so war es Luisa mit der jungen Rumänin oder Ungarin oder Bosnierin ergangen und mit ihrem
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