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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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eines ihrer vielen Privilegien.
    Das war das einzige Mal, daß es so aussah, als würde Luisa mich auffordern, eine Weile im Wohnzimmer Platz zu nehmen, ihr schien auf einmal bewußt geworden zu sein, daß wir uns so bald nicht wiedersehen würden und daß wir am Ende kein einziges richtiges Gespräch geführt hatten; daß sie keinerlei Interesse gezeigt hatte, weder an meinem Leben in London noch an meiner Arbeit oder an meinen Gewohnheiten oder an meinen Perspektiven oder an meinem allgemeinen Gemütszustand oder an meinen Freundschaften oder an meinen möglichen Liebschaften (in diesem letzten Punkt hätte ich die Möglichkeit gehabt, ihr nicht zu antworten, so wie sie es mir gegenüber getan hatte), und nicht einmal an den schlampen- oder ferkelhaften oder betrunkenen oder weggetretenen – in jedem Fall sliplosen – Frauen, die womöglich Blutstropfen in meiner Wohnung oder bei Wheeler hinterließen und die ihr Anlaß zu genüßlichem Spott geboten hatten. Während meines nicht kurzen Aufenthalts hatte sie mir bemerkenswert wenig Neugier und Aufmerksamkeit entgegengebracht, und wäre nicht gewesen, was ich im geheimen getan hatte, hätte ich mich nicht brutal in ihr Leben eingemischt – in einem gewissen Maß hatte ich es ihr auseinandergerissen, oder ich hatte die Form zum Einsturz gebracht, die sie sich gerade neu aufzubauen versuchte – und hätte ich nicht deshalb das Gefühl gehabt, in hohem Maß in ihrer Schuld zu stehen, so wäre diese massive Gleichgültigkeit Grund genug gewesen, mich schlecht behandelt zu fühlen und mich darüber halblaut zu beschweren. Aber sie war dermaßen in sich versunken, sie steckte wahrscheinlich dermaßen tief in ihrer Geschichte, daß ihr gar nicht auffiel, wie seltsam meine augenscheinliche Bescheidenheit und mein Übermaß an Diskretion eigentlich waren. Sie kannte mich gut, sicherlich war ich der Mensch, den sie am besten kannte. Sie wußte, daß ich die Form wahrte und kein Quälgeist war, daß ich gutwillig annahm, was man mir gab, und nicht um das rang, was man mir verweigerte, mein Stolz hinderte mich daran, anderen Leuten allzusehr hinterherzulaufen, und ich handelte undurchsichtig, um meine Ziele zu erreichen, ich hielt mich auf und wartete, lingering and delaying, solange es nötig war. Doch ganz offensichtlich war es nicht normal, daß ich so wenig unternommen hatte, um sie unter vier Augen und in Ruhe zu sehen. Daß ich die Initiative ganz ihr überlassen hatte und so sehr beiseitegetreten war, daß ich die Tage hatte verstreichen lassen, ohne präsenter oder sichtbarer zu werden und ohne unser Treffen einzufordern. Das hätte sie stutzig machen müssen, tat es aber nicht. Ihr Geist war zu sehr mit anderen Themen beschäftigt, bestimmt kreisten ihre Gedanken um Custardoy, zuerst um die unbegreifliche Anziehung, die er auf sie ausübte, vielleicht um die Spannung zwischen ihrer Zuneigung und ihrem Mißtrauen – zu einem gewissen Teil mußte sie einen solchen Mann immer als wenig empfehlenswert wahrnehmen –, sodann um ihre Unruhe wegen seines unerwarteten und abrupten, kaum begründeten Fehlens, um den wachsenden Kummer, den seine ausbleibenden Anrufe ihr bereiteten, vielleicht hatte er seit seinem Verschwinden noch kein Lebenszeichen gegeben, wie ich es ihm befohlen hatte (›Während deiner Abwesenheit rufst du sie selten an, und zwar immer seltener, in größeren Abständen‹), und das sinnlose Warten auf etwas, das schließlich drückend wird und alle Zeit beherrscht und allen Raum einnimmt, man harrt nur auf das Klingeln, das jeden Moment kommen kann, und die Momente werden äußerst beschwerlich und lang, das Knie auf deiner Brust und Blei auf deiner Seele, bis die Erschöpfung uns übermannt und uns eine gewisse Atempause verschafft.
    Vielleicht war es das, eine müdigkeitsbedingte Auszeit, was es ihr möglich machte, sich kurz umzublicken und mich zu sehen, sich zu erinnern, wer ich war, und zu begreifen, daß ich am nächsten Tag weg sein würde und daß sie mich dann hätte vorbeiziehen lassen, ohne mich – um es einmal so auszudrücken – genutzt zu haben; daß ich ihr jedoch in jener Nacht immer noch dazu dienen konnte, für eine Weile die Zeit zu betrügen und sie mit meinen Londoner Geschichten, mit Bemerkungen oder Anekdoten aus meiner ihr fremden Welt, einige Minuten lang aus ihren Obsessionen zu holen, die nicht abebben wollten. Bestimmt hätte sie mir nur mit einem viertel Ohr zugehört, nicht einmal mit einem halbem, wie jemand, der

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